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Kohl, Walter

Kohl, Walter

Titel: Kohl, Walter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leben oder gelebt werden
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entgegentreten, wir hätten uns überhaupt
nichts zu sagen gehabt. Dem war nicht so, ganz im Gegenteil. Wir hatten sogar
ein recht hohes Niveau darin entwickelt, Gespräche miteinander zu führen:
sachliche Gespräche. Er schien ein pädagogisches Interesse daran zu haben,
mich hierin zu schulen. Regelmäßig, wenn er zum Wochenende nach Hause kam, ließ
er sich von mir über die vergangene Woche informieren. Ich hatte kurz und knapp
zu formulieren, ich hatte »faktenorientiert« zu berichten. Er nahm meinen
Rapport entgegen, und in der Regel erhielt ich dann Dispens, es sei denn, es
war etwas Besonderes vorgefallen. Wenn ich selbst Lust auf ein Gespräch hatte,
brachte ich das Thema auf die Politik. Ich wusste: Gelang es mir, mit einer
Frage oder Bemerkung sein Interesse zu wecken, nahm er sich spontan Zeit für
eine »sachliche Diskussion«.
    Die
Politik ist sein Lebenselixier, der Politik ordnete er alles unter. Ein Mensch
musste politisch beschlagen sein, dann war er für ihn ein interessanter
Gesprächspartner. Auch wir beide führten interessante, ja packende Gespräche,
aber nur solange es um politische Themen ging. Seine Themen.
Nicht selten bat er mich um eine Meinungsäußerung zu aktuellen politischen
Fragen, die ihn beschäftigten. Dass meine Meinung von Gewicht für ihn war,
bezweifle ich allerdings. Das Protokoll war flexibel, solange eines klar war:
Er war der Chef, er nahm die Auswahl der Themen vor und die letztgültige Wertung.
Jemand wie ich wurde gehört, wahrscheinlich ganz ähnlich, wie er auch seine
Fachreferenten hörte. Oder war ich vielleicht nur eine von den vielen Stimmen
des Volkes, die ein Spitzenpolitiker permanent wahrnehmen muss? Ob er auf jemanden
hörte, bestimmte natürlich nur er selbst, und wenn er eine Meinung übernahm,
befand er kühl darüber, ob er sie später vielleicht als seine eigene ausgeben
würde. Hätte ich mich für eine Karriere in der CDU entschieden, wären wir
möglicherweise die besten Freunde geworden. Doch ich suchte meinen eigenen
Weg, einen Weg, der bei ihm Zweifel, Misstrauen und irgendwann sogar Missfallen
erregte.
    Gleich
meine erste berufliche Entscheidung ging in seinen Augen schief. Dabei war ich
so stolz darauf, mich bei einer der führenden Investmentbanken an Wall Street
qualifiziert zu haben. Meine Kunden saßen in Oklahoma, in Texas, in Louisiana.
An meinem Arbeitsplatz war deutsche Politik, war Helmut Kohl völlig irrelevant.
Hier war ich einfach Walter from Germany, einer aus
dem IPO-Team für Börseneinführungen. Ich hatte meine Leistung zu bringen und
sonst nichts.
    Im Sommer
1991 besuchten mich meine Eltern in New York. Es war ein Sonntag, das Büro
verwaist, und ich ergriff die Gelegenheit, ihnen meinen Arbeitsplatz zu zeigen,
einen Schreibtisch im großen Handelsraum der Bank. Hier hatten alle die
gleichen Büromöbel, ob Managing Director oder kleiner
Analyst. Dass es nur - wenn überhaupt - bewegliche Stellwände zwischen den
Schreibtischen gab, lag in der Natur der Sache, denn in diesem Geschäft gilt es
schnell und problemlos zu kommunizieren. In unserer Etage des Wolkenkratzers
befanden sich mehrere hundert Arbeitsplätze, alle in diesem einzigen Raum.
Hier war eines der Kraftzentren von Wall Street, und ich war sehr stolz, dass
ich es bis dorthin geschafft hatte.
    Meine
Eltern traten ein und machten lange Gesichter. Mein Vater war geradezu
geschockt. Er hatte damals keinen blassen Schimmer, was eine Investmentbank
ausmachte. Er kannte nur deutsche Banken, mit Ehrfurcht gebietenden Eingangshallen,
dicken Teppichen schon in den Vorzimmern der Direktoren. Er war es gewohnt, in
repräsentativen Büros mit konservativem Mobiliar mit den Vorständen wichtige Gespräche
zu führen. Das hemdsärmelige Ambiente meines Arbeitsplatzes, und sei es im
Gral des internationalen Investmentbanking, sprengte sein
Vorstellungsvermögen. Es muss ihm irrwitzig erschienen sein, seine Erwartungen
wurden heftig enttäuscht. Sprachlos und konsterniert schaute er mir fragend
ins Gesicht.
    Auch
Mutter stand wie angewurzelt da, schaute ungläubig und erwartete meine
Erklärungen. Vater allerdings wollte keine Erklärungen. Er wollte nur meinen
Arbeitsplatz sehen. Ich zeigte ihm meinen Tisch, der etwa die Größe unseres
Küchentisches in Oggersheim hatte, direkt neben den Arbeitsplätzen der anderen
Teammitglieder. Ich setzte an, um zu erzählen, an welchen Transaktionen wir
gerade arbeiteten. Ich wollte ihm meinen beruflichen Alltag schildern. Er aber
drehte

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