Kohl, Walter
zweitrangig. Ein berechenbarer Mensch mit einer klaren Ansage
für sein Kind:
Sobald es
für mich ungemütlich wird, hast du harte Worte und eine laute Stimme zu
erwarten.
Es heißt,
ein altes Indianersprichwort besage, man müsse erst tausend Schritte in den
Schuhen eines anderen Menschen gehen, bevor man sich ein Urteil über ihn
erlauben dürfe. Ich kenne weder Krieg noch Flucht und Vertreibung, weder Hunger
noch materielles Elend. Das sind Erfahrungen, die meine Eltern prägten und sie
ihr Leben lang verfolgten. Ich kann nur gedanklich versuchen, mich in die
Schuhe dieser beiden Menschen zu stellen.
Ludwigshafen,
die Heimatstadt meines Vaters, wurde bereits im September 1939 bombardiert,
als eine der ersten deutschen Städte überhaupt, denn sie liegt keine sechzig Kilometer
von der französischen Ostgrenze entfernt. Hier hatte die IG Farben einen
bedeutenden Standort, es wurden strategisch wichtige Rohstoffe hergestellt,
und hier verliefen wichtige Nachschubverbindungen. Deshalb war Ludwigshafen
früher vom Bombenkrieg betroffen als die meisten anderen deutschen Großstädte.
Sehr oft,
wenn wir auf dem Weg zum Familienbesuch in Vaters Elternhaus in der Hohenzollernstraße
waren und an dem noch bestehenden Schutzbunker für die Zivilbevölkerung, Ecke
Sternstraße/Hohenzollernstraße, vorbeikamen, löste sich seine Zunge. Dort hatte
er zusammen mit Mutter und Geschwistern ungezählte Bombennächte verbracht. Auch
er erlebte als Kind den Schrecken der Phosphorbomben, die unlöschbare Brände
verursachten. Bereits im Alter von dreizehn, vierzehn Jahren wurden er und
seine Schulkameraden dazu herangezogen, Leichen aus den immer noch brennenden
Häusern zu bergen.
Er erzählte
auch, wie er das Kriegsende erlebte. 1944 wurde für seine Schulklasse die
»Verschickung« angeordnet. Darunter sollte man sich nicht eine Verlegung ins
sichere Hinterland vorstellen - nein, seine Schulklasse wurde nach
Berchtesgaden verfrachtet und dort als »Flakhelfer« eingesetzt. Ihr wurde eine
gefährliche Aufgabe im Zuge des letzten Kampfes um Hitlers Refugium auf dem
Obersalzberg zugewiesen. Während der Luftangriffe wurden die Kinder direkt an
den Zielpunkten der Bombenangriffe postiert, um die Verschlüsse sogenannter Nebelfässer
aufzudrehen, deren austretende Gase den alliierten Piloten die Sicht nehmen
sollten. Als die Amerikaner am 4. Mai 1945 Berchtesgaden eingenommen hatten,
ein paar Tage vor Kriegsende, hatten er und einige seiner Kameraden eine
verwegene Idee: sich auf eigene Faust nach Ludwigshafen durchzuschlagen. Quer
durch das verwüstete Süddeutschland, mitten durch die Front der überall
vorrückenden US-Verbände hindurchlaufend, erreichten sie schließlich
tatsächlich ihre Heimatstadt. Mehrmals erzählte er mir von dieser bemerkenswerten
Tat, mit sichtlichem Stolz.
Das habe
ich geschafft, damals, in diesem Alter.
Als
kleiner Junge war ich ergriffen und ebenfalls stolz darauf, dass er so etwas
vollbracht hatte. Doch wenn ich ihn aus kindlicher Neugier heraus ganz direkt
fragte, was er denn erlebt habe auf dieser abenteuerlichen Wanderung, wandte
er nur den Kopf zur Seite und schwieg.
Es war
immer derselbe Punkt, an dem sein Schweigen einsetzte: sobald es an seine
Gefühle ging, um die Ängste, um die Fragen, die sich doch ein jeder gestellt
haben muss, der dabei war. Kriegserlebnisse berichten - ja, das mochte er, aber
immer nur das äußere Geschehen und die Fakten. Fast so, ob er über die
Erlebnisse eines Dritten sprechen würde. Als Kind war ich fasziniert, denn er
war ein glänzender Berichterstatter. Sobald ich älter und nachdenklicher wurde,
interessierte ich mich aber auch dafür, was er, der ja an Leib und Seele ein
Betroffener war, wohl selbst gefühlt und gedacht haben mochte. Da schaute er
mich nur lange mit bedrückter Miene an. Sein Mund schwieg, aber seine Augen
sagten:
Du weißt
schon, wie ich das meine.
Über seine
Gefühle in jener Zeit mit ihm zu sprechen, war tabu. Unmittelbar nach dem
Scheiden von Mutter, als ich ihm eine Weile näher stand als sonst, schien sich
da etwas zu ändern. Ich meinte, eine kleine innere Öffnung bei ihm zu
verspüren, wir begannen über Gefühle zu sprechen, auch über meine eigenen, zum
Beispiel im Zusammenhang mit meiner Scheidung. Doch das war nur vorübergehend.
Langsam wurde die alte Zugbrücke wieder hochgezogen, und seit seiner zweiten
Heirat sind die Mauern um seine Burg höher und fester denn je.
Nun muss
ich wohl dem möglichen Eindruck
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