Kohl, Walter
meiner
Seele angekommen.
Als ich
ernsthaft über die Möglichkeit eines Selbstmords nachdachte, geriet ich in
einen sonderbaren Zustand: Alles war egal geworden - also konnte auch nichts
mehr misslingen! Damit war ich in einen inneren Raum eingetreten, den ich in
Ermangelung eines besseren Ausdrucks den Grund meiner Seele zu nennen
begann. Ich war am absoluten Nullpunkt meiner Moral, meines Lebenswillens
angelangt - und sonderbarerweise bezog ich daraus neue Kraft. Damit will ich
keineswegs empfehlen, dass man so tief gehen sollte, um sich wieder nach oben
zu tragen. Nein, ich empfehle es wirklich nicht! Ich halte es im Prinzip auch
für sehr fragwürdig, so weit zu gehen. Bei mir selbst hat es sich halt so
ergeben, und daran konnte ich nichts ändern. Welcher Punkt, welche persönliche
Krise den Grund bildet, auf dem das Fundament eines neuen Lebens errichtet
wird, ist nicht allgemein zu bestimmen. Es ist immer ein »gefühlter Punkt«,
rein subjektiv empfunden, von Mensch zu Mensch verschieden. Aber für unsere
psychische Ökonomie hat er sozusagen systemische Relevanz:
Danach muss es nach
oben gehen. Das ist wie ein Gesetz - unter der Voraussetzung, dass innere
Öffnung geschieht. Dann scheint das Leben, womöglich zum ersten Mal seit langer
Zeit, plötzlich wieder leichter zu werden. Ganz von selbst. In dieser Erfahrung
liegt das Geheimnis des Energiewandels: Wir selbst nehmen uns jetzt leichter,
und dadurch wird auch unser Leben leichter, besser, lebenswerter. Der erste
Schritt in das selbstbestimmte Leben ist getan.
Ein Wort
noch zur Trauer. Sie ist kein an sich negatives Gefühl, ganz im Gegenteil, sie
ist wichtig und kann sehr heilsam sein. Im Gegensatz zur Depression, die sich
fundamental von der Trauer unterscheidet, bietet Trauer eine Möglichkeit, mit
dem Schmerz umzugehen, die belastende Situation wirklich anzunehmen und
unseren Gefühlen den notwendigen Raum zu geben. Depression dagegen ist, wenn
man so will, »verselbstständigte Trauer«, ein Zustand negativer Selbstgenügsamkeit,
eine seelische Verfassung, die unseren Lebensmut abwürgt. Aufrichtige Trauer
dagegen lässt uns mit uns selbst in Berührung kommen, sie ist wie eine Treppe,
die tief in unser Inneres führt, die uns sogar ein Stück Frieden schenken kann
- aber nur, wenn sie nicht zum endlosen Abstieg wird und in der Depression
endet. Dann kann sie sogar mithelfen, den Turnaround zu schaffen, der uns für Versöhnung empfänglich macht, und damit
beginnt die eigentliche Heilung der Seele.
Ich kenne
das Gefühl der Trauer selbst sehr gut. Meine Trauer um meine Mutter dauerte
lange Zeit. Vielleicht zu lange? Ich haderte lang mit ihrem Tod. Mich damit
auszusöhnen fiel unendlich schwer. Meine Gefühle drehten sich im Kreis. Nur
langsam, sehr langsam schloss sich diese Wunde, und die Narbe schmerzte immer
wieder sehr. Doch dann kam das Leben selbst mir zu Hilfe. Im Jahr 2008, also
schon geraume Zeit nach ihrem Tod, erhielt ich einen Anruf von der ZNS - Hannelore
Kohl Stiftung. Es handelt sich um eine Hilfsorganisation für Unfallverletzte
mit Schäden des zentralen Nervensystems (ZNS), die meine Mutter selbst 1983
ins Leben gerufen hatte. Zur Feier des 25. Jahrestags der Stiftung in Ludwigshafen
wurden mehrere hundert Gäste erwartet. Mein Vater konnte nicht an der
Feierstunde teilnehmen. Es war aber der Wunsch der Stiftung, dass jemand aus
der Familie Kohl ein Grußwort an die Gäste richtete. Daher erging die Anfrage
an mich.
Es war
eine schwierige Entscheidung. Nicht ohne Grund hatte ich mich von der Stiftung
lange ferngehalten, denn ich vermochte mich mit einigen Vorgängen unmittelbar
nach dem Tod meiner Mutter nicht zu identifizieren. Zudem wäre, wenn ich mich
dort engagiert hätte, bei mir nur an alte Wunden gerührt worden.
Schon dass
die Veranstaltung nur wenige Kilometer von ihrem Grab und meinem Elternhaus
entfernt stattfinden sollte, bereitete mir Bauchschmerzen. Zudem würde ich
viele alte Weggefährten meiner Mutter und meines Vaters wiedersehen. Und dann
sollte ich auch noch eine Rede halten! Womöglich würde die Presse, wenn ich
einen Fauxpas beginge, es genüsslich ausschlachten. Wollte ich mir das antun?
Wäre es nicht ein Ausweg, einfach aus terminlichen Gründen abzulehnen? Doch
damit konnte, damit wollte ich mich nicht mehr zufriedengeben. In mir kämpften
zwei gegensätzliche Tendenzen.
Tu dir das
bloß nicht an. Geh da nicht hin, da kannst du nur verlieren. So sprach
mein Verstand.
Warum
willst du wieder einmal
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