Kohl, Walter
»Gerechtigkeitsfalle«. Ein
leidenschaftliches Eintreten für Gerechtigkeit kann in die Sackgasse führen.
Es polarisiert, statt auszugleichen. Erst seit ich aufgehört habe, die
Verantwortung für unsere Probleme miteinander einseitig meinem Vater anzulasten,
fühle ich mich freier. Ich muss einfach akzeptieren, dass mein Vater sich von
mir genauso ungerecht behandelt fühlte - und wahrscheinlich noch fühlt.
Aufgrund meiner negativen Fixierung auf die Rolle als »Sohn vom Kohl« hatte ich
schlicht und einfach nicht den Blick für seine Befindlichkeit.
Der Stress, den es bedeutet, sich jahrzehntelang in der politischen Welt zu
bewegen und zu behaupten, schien mir unbeachtlich. Das hat mein Vater mit
Sicherheit als Mangel an Wertschätzung meinerseits empfunden. Nicht zu
Unrecht, aus seiner Sicht. Aus seiner Sicht sorgte er nach besten Kräften für
seine Familie.
»Gerechtigkeit«
ist immer subjektiv, die Gerechtigkeit des einen hat mit der Gerechtigkeit des
anderen häufig nichts zu tun. Wenn es zur Krise kommt, besteht die Gefahr der
gegenseitigen Blockade durch rivalisierende Auffassungen dessen, was
Gerechtigkeit sei.
Life ain't
fair!
Der
Überlieferung nach stammt dieser Satz von John F. Kennedy. Der Mann war alles
andere als resignativ - er war Realist! Es gibt keine absolute Gerechtigkeit,
sondern immer nur eine »gefühlte« Gerechtigkeit. Und dies bedeutet: Was für den
einen gerecht ist, dünkt dem anderen ungerecht. Damit stehen wir vor einem
Dilemma: Zwar ist Gerechtigkeit eine Grundnorm menschlichen Miteinanders, doch
da es keine verbindliche Definition gibt, wird Gerechtigkeit zur Utopie. Also
benötigen wir eine Hilfskonstruktion, um Gerechtigkeit zu
institutionalisieren, die wir Recht und Gesetz nennen. Hier öffnen wir uns eine
Hintertür: »Gerechtigkeit« wird durch »Recht« und seine komplexen Ausführungsbestimmungen
ersetzt. Wer die besten Anwälte verpflichten kann, der hat die besten Chancen,
dass ihm »Gerechtigkeit widerfährt«. Es geht um das Gewinnen, und die Gerechtigkeit
verkommt zur Taktik.
Ich habe
mit unserer legalistischen Auffassung von Gerechtigkeit ein Problem, da die
innere, die spirituelle Dimension dabei verloren geht. Gerechtigkeit kann es
nur geben, wenn alle Parteien der Lösung auch innerlich zustimmen.
Es bleibt
die Frage: Sollen wir uns also selbst zu unserem Recht verhelfen? Das ist eine
verführerische Frage, Kleists Novelle Michael Kohlhaas hat in
literarischer Form die damit verbundenen Probleme aufgezeigt. Als Jugendlicher
hat mich die Geschichte des Pferdehändlers, der sich der Willkür der Obrigkeit
widersetzt und sein »gutes Recht« in die eigenen Hände nimmt, fasziniert.
Kohlhaas macht die Erfahrung, dass es etwas völlig anderes sein kann, im Recht
zu sein, als Recht zu bekommen. Sein fürchterliches Ende aber legt nicht etwa
von der Sinnlosigkeit Zeugnis ab, einer menschenverachtenden Obrigkeit zu
widerstehen, sondern davon, dass es gegen die Ordnung des Lebens verstößt,
halsstarrig auf der eigenen Defi nition von
Gerechtigkeit zu bestehen, koste es, was es wolle. Als Erwachsener verstand
ich, was mich an diesem Drama damals so gepackt hatte: Es zeigte mir mein
eigenes Spiegelbild.
Innere
Verletzungen sind nicht messbar. Sie sind in keinem Gesetzeskatalog
verzeichnet. Das ist auch gar nicht möglich, denn wie soll man Enttäuschung,
Vertrauensmissbrauch oder gar betrogene Liebe messen und katalogisieren? Dabei
sind es gerade unsere verletzten Gefühle, die es uns so schwermachen, ein
freudvolles und glückliches Leben zu führen. Es sind diese Erfahrungen, die uns
innerlich einsperren, die uns leiden lassen und mit denen wir nach Abschluss
des »amtlichen Teils« ganz allein dastehen. Was tun, wenn man nach ergangenem
Urteil, von wem auch immer wir uns beurteilen lassen, mit seinem Schmerz
alleingelassen dasteht?
Auch
musste ich lernen, die Versöhnung so zu leben, dass sie von anderen Menschen
nicht als Wehrlosigkeit missverstanden wurde. Gerade in der aufgeladenen
Emotionalität eines Konfliktes kann Versöhnungsbereitschaft leicht als Ausdruck
von Schwäche oder gar Kapitulation missgedeutet werden. Wenn Konflikte zu
Prinzipienstreitereien, zu einer Art Poker oder gar zu Machtspielen
degenerieren, bei denen derjenige, der sich zuerst bewegt, schon verloren hat,
dann verlangt der Wille zur Versöhnung auch die Fähigkeit zum kontrollierten
Streiten. Dies gilt besonders, wenn starke Egos im Spiel sind. Solchen Menschen
fällt es naturgemäß
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