Kohl, Walter
kindliche Fähigkeit der Versöhnung, des
Frieden-Machens wäre doch gar nicht so unerwachsen, oder? Lao-Tse sagt dazu:
Nach einem
bitteren Streit bleibt immer ein bitterer Rest. Was kann man tun?
Der Weise
behält zwar seinen Anteil vom Gewinn, aber er treibt nicht die Schuld von
anderen ein.
Ein
großzügiger Mensch trägt einfach seinen Teil zum Ganzen bei. Ein kleinlicher Mensch muss immer
von anderen die Erfüllung ihrer Pflichten fordern.
Einer der
größten Saboteure des Friedens kommt im Gewände einer Utopie daher.
»Gerechtigkeit« gilt als eine Grundnorm menschlichen Zusammenlebens, keine
Gesellschaft, keine einzige Beziehung unter Menschen kommt ohne eine Vorstellung
von »Gerechtigkeit« aus. Dabei ist jedem im Grunde bewusst, dass es keine
vollkommene Gerechtigkeit geben kann. Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass
zwischen der verstandesmäßigen Erkenntnis dieser einfachen Tatsache und ihrer
gefühlsmäßigen Akzeptanz Welten liegen können. Ich war den größten Teil meines
Lebens stolz darauf, dass meine Umwelt mir ein »ausgeprägtes
Gerechtigkeitsgefühl« bescheinigte. Weniger gern hörte ich es, wenn man mir
attestierte, ich sei manchmal unversöhnlich und starrsinnig. Heute würde ich
sagen, dass ich zu sehr auf »Gerechtigkeit« als Lösung für meine Probleme
hoffte. Meine innere Fixierung auf die Utopie von Gerechtigkeit, genauer
gesagt: meine feste Überzeugung, ich sei einer schicksalhaften Ungerechtigkeit
zum Opfer gefallen, war eines der größten Hindernisse auf dem Weg zu einem
selbstbestimmten Leben und letztlich zu mir selbst. Die unfreiwillige Ironie
lag darin, dass ich mich selbst auslieferte, indem ich mein Ausgeliefertsein
beklagte, anstatt mich aufzumachen und einfach meinen Weg zu gehen.
Solange
wir über erlittenes Unrecht klagen, sind wir unfähig, uns selbst gerecht zu
werden. Der erste Schritt auf diesem Weg ist immer ein friedlicher Schritt auf
das vermeintliche »Unrecht« zu - oder, vielleicht noch schwieriger, in Richtung
des Menschen, durch den wir uns ungerecht behandelt fühlen.
Erst
verletzt du mich, und dann soll ich auch noch auf dich zugehen? Das kann es
doch wohl nicht sein!
Erscheint
es nicht wie verkehrte Welt, dass sich das Opfer um den Täter bemühen soll, als
sei er ein Freund? Liegt es nicht vielmehr in der Verantwortung des Täters,
sich zu bewegen? Sich zu entschuldigen, Reue zu zeigen, Wiedergutmachung zu
leisten?
Ich selbst
war in dieser Haltung gefangen, und das Ergebnis war einerseits ein blindes
Anrennen und ein ständiger Kampf, andererseits Schockstarre und Lethargie.
Hinter jenem lag der Zorn, hinter diesem die Angst. Im Ergebnis war ich passiv.
Ich wurde gelebt. Ich wartete und wartete,
aber nichts änderte sich, denn ich hatte mir selbst schon ein Denkmal als Opfer
gesetzt. Als Gipfel der Ungerechtigkeit empfand ich es, dass mein Vater,
während enormer Druck auf unserer Familie lag, sich ungerührt mit sogenannten
wichtigeren Geschäften entschuldigte, statt sich einer Diskussion zu stellen.
Ich konnte und wollte es nicht akzeptieren, dass jemand, der ein ganzes Land zu
führen beanspruchte, sich einer für mich wahrnehmbaren Verantwortung und
Führung in den von ihm verursachten Momenten des Schmerzes entzog. Es ist
halt so.
Diese
ebenso lapidare wie wachsweiche Apologetik meiner Mutter machte mich nur umso
zorniger. Sprachlosigkeit wirkt wie schleichendes Gift, und dass sie in Überforderung
gründet, muss man auch erst einmal durchschauen. Jahrzehntelang habe ich auf
ein »klärendes Gespräch« mit meinem Vater gehofft. Heute weiß ich, dass wir
dieses Gespräch nie führen werden. Alle meine Versuche scheiterten und endeten
in einem Kreislauf aus Streit, Missverständnissen und neuem Schmerz. Mein Vater
hielt mir oft vor, ich verstünde nicht, welche Vorteile ich aufgrund meiner
Herkunft hätte. Ich aber wollte gar keine Vorteile - ich wollte einfach nur so
sein dürfen wie andere Gleichaltrige. Er gab zu bedenken, dass ich alles von
der negativen Seite her sähe und ihm gegenüber ungerecht sei. Meine Entgegnung
war immer die gleiche, ob in zaghaften Andeutungen oder als zorniger Vorwurf:
Ein Vater habe als Vater beurteilt zu werden und nicht als Bundeskanzler.
Dies war die Stelle, an der unsere Diskussion regelmäßig zum rhetorischen
Schlagabtausch verkam. Schließlich waren wir beide frustriert - ein jeder
fühlte sich ungerecht behandelt und emotional erschöpft.
Aus meiner
heutigen Sicht tappte ich in eine Art
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