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Kokoschkins Reise

Kokoschkins Reise

Titel: Kokoschkins Reise Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans Joachim Schädlich
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vor den Kinos gegen den Film, und obwohl unter meinen Kommilitonen wenig Nazis waren, fühlten sich manche Kommilitonen durch Remarque in ihren patriotischen Gefühlen verletzt. Oder eine andere Sache: Alines Vater sympathisierte mit den streikenden Berliner Metallarbeitern. Mich interessierte der Streik nicht, aber Alines Vater sagte zu mir, ich solle endlich meine Augen aufmachen.
    Übrigens, im Juni Neunzehnhundertdreißig wurde Hertha BSC tatsächlich Deutscher Fußballmeister, gegen Holstein Kiel. Alines Vater bestand darauf, daß er das Neunzehnhundertneunundzwanzig vorausgesagt habe. Sein großer Held war der Hertha-Stürmer Willi Kirsei.»
    «Fand das Spiel in Berlin statt?»
    «Nein, in Düsseldorf.»
    «Alines Vater ist zum Endspiel nach Düsseldorf gefahren?»
    «Nein. Er las die Zeitungsberichte.
    Im Oktober wurde das Pergamon-Museum eröffnet. Ich hatte große Lust, sofort hinzugehen. Aber ich wartete, bis ich mit Aline gehen konnte.
    Für Alines Vater war es ein großer Tag, als im Juni Neunzehnhundertzweiunddreißig in Köln Hertha BSC den Meistertitel gegen München Achtzehnhundertsechzig verteidigte. Den Siegtreffer hatte Kirsei geschossen.
    ‹Ganz klar›, sagte Alines Vater.
    Die politischen Dinge waren Neunzehnhundertzweiunddreißig für mich nicht leicht zu durchschauen, obwohl doch alles offen auf der Hand lag: sechshunderttausend Arbeitslose in Berlin – das waren zehn Prozent aller Arbeitslosen in Deutschland. Die Kandidatur Hitlers bei der Wahl des Reichspräsidenten. Hitler versprach Freiheit und Brot; das hörten die Arbeitslosen gern. Aber Brot hatten die Nazis nicht zu vergeben, und wie sah es mit der Freiheit aus? Die S A-Schläger griffen schon Neunzehnhunderteinunddreißig jüdische Geschäfte an. Hindenburg gewann gegen Hitler und Thälmann. Aber Hitler bekam im zweiten Wahlgang immerhin über sechsunddreißig Prozent der Stimmen.»
    «Haben Sie Neunzehnhundertzweiunddreißig geahnt, wie das mit Hitler kommen würde?»
    «Nein. Ich war zweiundzwanzig Jahre alt und politisch unerfahren, eigentlich ahnungslos. Verwirrend fürmich war der Streik bei den Berliner Verkehrsbetrieben im November Zweiunddreißig, den die Kommunistische Gewerkschaft und die Nazi-Betriebszellenorganisation gemeinsam ausgerufen hatten. Die Diskussionen mit meinen Kommilitonen halfen mir nicht. Lieber redete ich mit Alines Vater.
    Er sagte: ‹Die Kommunisten und die Nazis machen die Republik kaputt.›
    Besonders wütend war er auf den Reichskanzler von Papen, der im Juli die SPD-geführte Regierung von Preußen abgesetzt und ihre Geschäfte als Reichskommissar übernommen hatte.
    ‹Baron Papen›, hatte Alines Vater gesagt.
    Papen hatte behauptet, die preußische Regierung hätte nicht genug gegen die Kommunisten getan. Alines Vater hatte verstanden, daß das ein Vorwand war. Papen hat die demokratischen Kräfte in der preußischen Verwaltung ausgeschaltet und den Nazis in die Hände gespielt.»
    «Hat sich Alines Vater mit seinen Ansichten nicht in Gefahr gebracht?»
    «Er hat öffentlich nichts gesagt. Nur in der Küche hat er so gesprochen. Mir hat er geholfen, die Dinge besser zu verstehen.»
     
    «Unter meinen nächsten Kommilitonen gab es zwar nur wenige Nazis. Aber es gab den Kampfausschuß der deutschen Studentenschaft, der später die Bücherverbrennungen organisiert hat. Nach der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler am dreißigsten Januar Dreiunddreißig,nach der Machtübertragung und nach dem endlosen nächtlichen Fackelzug der SA fühlte ich, daß der Boden unter meinen Füßen brach. Ein Gefühl der Unsicherheit, der Verlorenheit, der Bedrohung und Gefahr. Es war das gleiche Gefühl, das mich nach Mamas Berichten über die Machtergreifung der Bolschewisten Neunzehnhundertsiebzehn in Petersburg beherrscht hatte. Ich konnte mich ja selbst an diese Zeit erinnern.
    Das Gefühl der Verlorenheit wurde Dreiunddreißig immer stärker. Reichstagsbrand Ende Februar, Entlassung aller jüdischen Ärzte aus den Berliner Krankenhäusern Mitte März, Ermächtigungsgesetz, Boykott jüdischer Geschäfte, Ärzte und Rechtsanwälte. Dann das Verbot der SPD im Juni, die Selbstauflösung der demokratischen Parteien, die Ausbürgerung von Emigranten.»
    «Alines Vater   …»
    «…   war zwar nur ein kleines SP D-Mitglied . Er nahm das Verbot zähneknirschend hin. Was hätte er sonst tun sollen. Aber ihm drohte die Entlassung bei der Eisenbahn.»
    «Das Gefühl der Bedrohung   …»
    «Der gestiefelte

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