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Kokoschkins Reise

Kokoschkins Reise

Titel: Kokoschkins Reise Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans Joachim Schädlich
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und ging.
    Sachnowski sagte: «Es wäre mir lieber, Lucy und Frank würden sich einen anderen Platz suchen.»
    «Der Ausfall von Herrn Oakley wäre nicht nötig gewesen», sagte Olga Noborra.
    «Stimmt», sagte Kokoschkin. «Aber so ist er. Ich kenne ihn.»
    Olga Noborra sagte: «Ich gehe zur Pool-Terrasse und suche mir einen Liegestuhl.»
    «Ich gehe in den Probenraum des Streichquartetts», sagte Sachnowski.
    Kokoschkin sagte zu Olga Noborra: «Ich begleite Sie.»
     
    An der Terrassenbar bestellte Kokoschkin einen frisch gepreßten Orangensaft und brachte ihn Olga.
    Sie sagte: «Sie sorgen für mich wie ein Vater und eine Mutter.»
    ‹Schade›, dachte Kokoschkin. Er sagte: «Ein schöner Satz. Ich kenne ihn.»
    Er setzte sich neben Olga Noborra in einen Liegestuhl und blickte in den Himmel.
    Nach einigen Minuten sah er zu Olga hin. Sie war eingeschlafen.
    Kokoschkin konnte Olgas Gesicht betrachten. Die dunklen Brauen. Den Schatten der Lider. Die hohen Wangenknochen. Die Nase. Die Lippen.
    Kokoschkin lehnte sich zurück, nahm ein kleines Buch aus der Tasche und las.
    Als er nach einiger Zeit wieder zu Olga hinsah, hatte sie die Augen geöffnet.
    Kokoschkin sagte: «Darf ich Ihnen etwas vorlesen?»
    «Ja. Gerne.»
    «Sommer, ein Gut im waldigen westlichen Gebiet.
    Den ganzen Tag fiel ein frischer, starker Regen, unaufhörlich trommelte er auf das Bretterdach. Im stillgewordenen Haus ist es dämmerig, langweilig, an der Decke schlafen Fliegen. Im Garten neigen sich die feuchten Bäume in stiller Ergebung unter das fließende Netz des herabströmenden Wassers, die roten Blumen auf den Beeten vor der Veranda leuchten ungewöhnlich grell. Hoch über dem Garten, vor dem dunstigen Himmel aufragend, steht ein Storch auf dem Rand seines Nestes; dunkel, mager, mit abwärtsgebogenem
Schwanz und hängendem Schopf; er steht da auf seinem Nest im Wipfel der hundertjährigen Birke, in der Astgabel ihrer nackten weißen Äste; bisweilen hüpft er ein wenig unzufrieden, hölzern klappert sein Schnabel: Was ist denn das – das ist doch eine Sintflut, eine richtige Sintflut!
    Aber jetzt, um vier Uhr, wird der Regen heller, dünner. Der Samowar wird im Flur angeheizt – der balsamische Geruch des Rauches zieht über den ganzen Hof. Zur Zeit des Sonnenuntergangs ist der Himmel bereits völlig klar, es ist still und friedlich. Die Herrschaften gehen mit ihren Hausgästen zu einem Spaziergang in den Wald.
    Sanft blaut der Abend.
    In den mit braunen Nadeln bedeckten Schneisen des Waldes sind die Wege feucht und federnd. Die Fichten duften, die Bäume sind noch triefendnaß und geben ein Echo: eine ferne Stimme, irgendein langgezogener Ruf hallt wunderbar im fernsten Dickicht wider. Die Schneisen scheinen schmaler zu werden, ihre Breite im Vordergrund verengt sich ins Endlose, entführt in abendliche Ferne. Der Nadelwald steht mächtig, dunkel und dicht am Wegrand. Die Stämme sind in den Wipfeln kahl, glatt, rot; weiter unten sind sie rissig, grau bemoost, vereinigen sich: das sind Moose, Flechten, Zweige, die bereits in Fäulnis übergegangen sind, in grünlicher, zottiger Gewandung, wie bei sagenhaften Ungeheuern des Waldes, sie bilden das Unterholz, eine Art von russischer Urwildnis. Und wenn man auf die freie Fläche hinaustritt, erfreut man sich an dem jungen Nachwuchs der Fichten, an ihrem zarten, blassen Grün, ein wenig sumpfig noch, aber kräftig im Gezweig; über der ganzen Schonung
sprüht noch ein feiner Staubregen, der sie wie ein besternter Schleier überdeckt   …
    An jenem Abend liefen den Spaziergängern ein kleiner Kadett und ein guter, großer Hund voraus. Sie spielten miteinander, jagten und überholten einander im Jagen. Und mit den anderen Spazierenden hielt anmutig und gemessen ein Backfisch den Schritt, ein Mädchen mit langen Armen und Beinen, in einem leichten, karierten Mäntelchen, das aber doch irgendwie sehr reizend war. Alle lächelten – sie wußten, warum der Kadett so vorausläuft, so unermüdlich spielt und sich so heiter stellt – nur, damit er nicht in verzweifeltes Weinen ausbrechen muß. Das Mädchen wußte es auch, und es war stolz und zufrieden. Aber es sah unbekümmert und abweisend aus.»
    «Es gefällt mir», sagte Olga. «Wer hat es geschrieben?»
    «Sie ahnen es. Bunin. Ich ziehe Sie in
meine
russische Welt.»
    «Es ist das Rußland im neunzehnten Jahrhundert.»
    «Ja.»
     
    Kokoschkin war vor Olga Noborra im Kings Court. Er hatte sich an einen kleinen Tisch am Fenster gesetzt. Sie

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