Kokoschkins Reise
Gleichschritt, die Uniformen, Fahnen, das Parolengebrüll – eine einzelne Stimme wurde überschrien.»
«An der Universität?»
«Es fing schon im April an. Die neue Studentenrechtsverordnung. Bei der Immatrikulation hatten volleingeschriebene Studenten ihre arische Abstammung auf Ehrenwortzu versichern. Zwei Wochen später das Gesetz gegen die Überfüllung höherer Schulen und Hochschulen. Maximal eins Komma fünf Prozent durfte der Anteil jüdischer Schüler und Studenten an jeder Schule oder Fakultät noch betragen. Ich habe mit Alines Vater gesprochen.
Er meinte: ‹Du bist nicht in Gefahr.›
Was man Dreiunddreißig noch nicht wissen konnte: Das Institut für Agrarwesen und Agrarpolitik der Berliner Universität entwickelte ab Neunzehnhundertneununddreißig unter der Leitung von Professor Konrad Meyer, der S S-Mitglied und ein Günstling Himmlers war, einen sogenannten Generalplan Ost. Neunzehnhundertzweiundvierzig hat das Institut eine erste Fassung an Himmler geschickt. Das Ziel dieses Plans war die Germanisierung eroberter Gebiete durch Zwangsvertreibung der Bewohner und die Ansiedlung von Deutschen.»
«Nicht im Westen?»
«Doch. Aber vor allem im Osten, in Polen und Rußland. Die Mehrheit der Polen wurde als minderwertig angesehen, die man nicht hätte eindeutschen können. Tschechen wurden zu fünfzig Prozent ebenso bewertet, und so auch Franzosen.»
Hlaváček sagte: «Ich hätte gar nicht eingedeutscht werden wollen.»
«Die Berliner Universität! Im Laufe der Nazizeit hat die Universität vielen Mißliebigen den Doktorgrad aberkannt, zum Beispiel dem Begründer der Ausdruckspsychologie Rudolf Arnheim. Oder der Physikerin undChemikerin Hilde Levi, die in der Emigration Mitarbeiterin von Niels Bohr und von dem Nobelpreisträger George de Hevey wurde. Oder Ludwig Marcuse, dem Philosophen und Schriftsteller. Oder Alice Salomon, der großen Sozialreformerin. An einer Universität, die solchen Größen die akademischen Grade raubte, sollte ich weiter studieren? An dieser Universität wollte ich promovieren?»
«Das war an anderen deutschen Universitäten genauso.»
«Deshalb wollte ich aus Deutschland weg.»
«Und Sie kamen nach Prag.»
«Aline und ihre Eltern waren gegen meine Abreise.
Alines Mutter sagte: ‹Wo willst du wohnen. Du hast keine Arbeit, kein Geld.›
‹Du sprichst nicht Tschechisch›, sagte Alines Vater.
Aline sagte: ‹Und was wird aus uns beiden?›
‹Du kommst mit›, sagte ich.
‹Ich kann meine Eltern nicht alleinlassen.›
Alines Vater sagte: ‹In Berlin hast du deine Arbeit. Hier hast du dein Unterkommen. An der Universität werden sie dir schon nichts tun.›
‹Du verstehst mich nicht.›»
DRITTER TAG AUF SEE
11. September 2005
Kokoschkin sagte sich am Morgen: Bis New York noch drei Tage und drei Nächte auf See. Er freute sich auf das Frühstück mit Olga Noborra im Kings Court um 10 : 00 Uhr.
Olga sagte: «Heute vor vier Jahren …»
«Ich weiß. Ich mag die Silhouette von Manhattan ohne die beiden Türme gar nicht mehr sehen.»
«Wir sind oft in New York. Uns geht es genauso.»
Sachnowski kam an den Tisch. «Darf ich mich zu Ihnen setzen?»
«Aber ja.»
«Ich bin die förmlichen Sitzungen im Britannia leid. Und die Tischgespräche. Lady Lucy kann mitteilen, daß heute abend für den Herrn ein Jackett und ein Kragenhemd mit Krawatte angebracht sind, für die Dame ein Cocktailkleid oder ein Hosenanzug. Und sie kann daran erinnern, daß die Uhren in der Nacht um eine Stunde zurückzustellen sind.»
«Seien Sie nicht so streng», sagte Olga. «Sie können sich ein Vergnügen daraus machen.»
«Das fällt mir schwer. Übrigens, ich habe mit den Leuten vom Streichquartett vereinbart, daß ich ihren Probenraum benutzen darf.»
«Schön!»
«Die Musiker kommen aus Polen. Sie spielen heute abend im Illuminations. Nicht schlecht.»
«Was steht auf dem Programm?»
«Für jeden etwas. Zum Beispiel ein Divertimento von Mozart, das Prélude e-Moll von Chopin, von Joplin der Ragtime The Entertainer, von John Lennon und Paul McCartney Yesterday und zum Schluß Tea for two von Irving.»
«Reizvoll», sagte Olga.
«Ob man sich das aber anhören soll», sagte Kokoschkin.
«Vielleicht», sagte Sachnowski.
«Zum Lunch werden Sie doch kommen?»
«Ich weiß nicht.»
Olga Noborra wollte zum Training. Kokoschkin wollte mindestens eine Stunde lang an Deck 7 spazierengehen. Es war sonnig, 19° Celsius.
Zum Lunch war Sachnowski doch
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