Kokoschkins Reise
Dreiunddreißig des Prager Tagblattes.
«Das ist phantastisch», sagte Kokoschkin, und er blätterte im Prager Tagblatt.
«Warum wollen Sie das Prager Tagblatt von Dreiunddreißig sehen?»
«Ich war Dreiunddreißig in Prag und bin Vierunddreißig von hier in die Staaten gereist.»
«Das interessiert mich sehr. Ich bin Jahrgang Neunzehnhundertvierzig. Erzählen Sie doch. Vielleicht bei uns zu Hause? Meine Frau möchte bestimmt dabeisein.»
Kokoschkin ging am Abend zu Hlaváčeks. Frau Hlaváčková fragte ihn, ob er Wein trinke oder Bier, und sie stellte eine Platte mit belegten Broten auf den Tisch.
«Bitte nur Mineralwasser.»
Hlaváček und seine Frau tranken Bier. Sie sagte: «Ich bin Arzthelferin.»
«Mich faszinieren die Ereignisse des Prager Frühlings», sagte Kokoschkin. «Als ich Vierunddreißig wegging, war die Tschechoslowakei noch frei. Vielleicht wird sie das jetzt wieder. Die Jugend hat sich die Freiheit genommen, gegen die Unfreiheit zu rebellieren …»
«Nicht nur die Jugend», sagte Hlaváček. «Und die westdeutsche Jugend? Sie besitzt die Freiheit, gegen die Freiheit zu rebellieren.»
«Ich weiß, wovon Sie sprechen. Habe es in den Staaten erlebt.»
«Ganz anders die ostdeutsche Jugend. Sie sympathisiert mit uns. Allerdings – unsere Oberen wollen nur einen besseren Kommunismus. Wirkliche Freiheit ist etwas anderes.»
«Gar kein Kommunismus», sagte Hlaváčeks Frau.
«Aber die Veränderungen», sagte Kokoschkin. «Es ist ein Anfang.»
«Vielleicht der Anfang vom Ende», sagte Hlaváček. «Denken Sie an Ungarn. Neunzehnhundertsechsundfünfzig …»
«… und an Ostdeutschland Neunzehnhundertdreiundfünfzig», sagte seine Frau.
«Können Sie sich nicht vorstellen, Herr Kokoschkin, daß die Russen uns überfallen, um unsere Wirklichkeit der sowjetischen Ideologie anzupassen?»
«Doch, ich kann es mir vorstellen. Auch, was darauf folgen würde: Gesinnungszwang, Uniformität der Meinungen. Gleichschritt. Ich kenne es nur zu gut. Lassen Sie uns etwas Schöneres hoffen.»
«Sie sind Neunzehnhundertvierunddreißig in die USA gekommen. Wie ist es Ihnen dort ergangen?», fragte Hlaváček.
«Ich hatte ein Stipendium der Boston University bekommen. In Boston habe ich mein Biologie-Studium fortgesetzt. Bis Neunzehnhundertsiebenunddreißig. Anschließend habe ich mich beim U. S. Department of Agriculture in Washington beworben.
Ich wollte mich an der Bestandsaufnahme der Gräser in den USA beteiligen, die dort bis Neunzehnhundertfünfunddreißig von Albert Spear Hitchcock geleitet worden war. Hitchcock war im Studium mein Säulenheiliger, zum Beispiel durch sein Buch Methods of Descriptive Systematic Botany von Neunzehnhundertfünfundzwanzig. Das Standardwerk von Hitchcock A Manual of the Grasses of the United States ist zwar schon Neunzehnhundertfünfunddreißig erschienen, aber man hat uns, einen Kollegen und mich, zu ergänzenden Recherchen nach Nebraska geschickt. Ich wohnte in Nebraska an verschiedenen Orten, in Grand Island, in Kearney, in North Platte, doch unser Hauptquartier war Lincoln, das Institute of Agriculture and Natural Resources an der University of Nebraska. Aus der Feldarbeit in Nebraska ist meine Dissertation The Grasses of Nebraska hervorgegangen, und aus der Dissertation mein Buch. Die Dissertation habe ich in Boston vorgelegt, und in Boston bin ich an der Universität geblieben, als Assistant Professor, später als Professor, bis heute.
Boston gefällt mir sehr. Der Campus am Charles River. Meine Wohngegend Beacon Hill mit den alten Gaslaternen. Die alten Läden und das Ziegelstein-Pflaster in der Charles Street, der Public Garden von Achtzehnhundertsiebenunddreißig mit dem Reiterstandbild von George Washington, die Charles River Esplanade, der Blick über den Fluß hinüber nach Cambridge, der Hafen, der South Market, der Quincy Market, dieFischrestaurants … entschuldigen Sie, ich komme ins Schwärmen.»
«Neinnein, reden Sie weiter.»
«Der neue Prudential Tower mit einer Aussichtsetage im fünfzigsten Stockwerk. Ein unbeschreiblicher Blick über die Stadt … Aber jetzt ist es genug. Wir sind schließlich in Prag, der schönsten Stadt der Welt.»
«Wir lieben Prag über alles.»
«Schade, daß meine Frau nicht mitkommen konnte.»
«Warum nicht?»
«Sie ist krank.»
«Darf ich …»
«Ich möchte nicht darüber sprechen.»
An einem anderen Tag besuchten Kokoschkin, Hlaváček und seine Frau Branka das Kloster
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