Kolibri
dass du verletzt bist?â, fragte Karl und starrte den Splitter an.
âAm Anfang hatâs gar nicht wehgetanâ, log Maria, âauÃerdem ist das keine richtige Verletzung.â
âSondern?â, fragte Karl.
Maria überlegte eine Sekunde, dann sagte sie mit einem Schulterzucken, das sie sofort bereute: âEine kleine Schramme, nichts weiter.â Vermutlich stammte der Splitter von diesem Stromkasten unten, der durch die Tränengasgranate zerstört worden war.
âEine Schramme?â
âGenau. Ein Kratzer.â
âEin ziemlich schmerzhafter Kratzer, wenn du mich fragstâ, sagte Karl. âDu solltest mal dein Gesicht sehen.â
âIch kenne mein Gesicht, danke.â
Karl starrte sie an und lehnte sich ein wenig zurück. Es war fast wie in alten Zeiten. Aus nichtigem Anlass fingen sie an zu streiten und plötzlich waren sie mitten drin in einer Auseinandersetzung, die keiner von beiden wollte, von der keiner von beiden wusste, wie sie überhaupt angefangen hatte und wie sie sie wieder beenden konnten. Und wie er so ihr Gesicht betrachtete, beschlich ihn ein seltsames Gefühl. Irgendetwas war anders, irgendwie hatte sich Marias Antlitz verändert. Es war nichts Gravierendes, nur eine Kleinigkeit, ein Detail, allein, er kam nicht drauf, was es war.
âWillst du ein Porträt zeichnen?â, fragte Maria.
Karl atmete tief durch und zwang sich zur Ruhe. âIch will den Splitter aus deiner Schulter entfernenâ, sagte er.
âBemüh dich nichtâ, sagte Maria mit dünner Stimme. âTut eigentlich gar nicht weh.â
Karl stand auf und ging zum Bad hinüber. In der Tür blieb er stehen und drehte sich um. âEs macht mich nervös, wenn du mit diesem Stachel in deinem Fleisch hier herumsitzt und so tust, als wär das nichts.â
âDas bisschen Schmerz halt ich schon ausâ, sagte Maria schmallippig.
âIch nichtâ, sagte Karl und verschwand im Bad. Er machte Licht und wühlte in den Eingeweiden des Alibert herum, fand aber weder eine Pinzette noch Pflaster. Alles, was er an Brauchbarem entdeckte, war die halbleere Flasche Merfen Orange. Er ging zurück zu Maria, setzte sich wieder neben sie aufs Sofa und hielt ihr die kleine Plastikflasche hin.
âWas kommt jetzt?â, fragte Maria mit spöttischem Grinsen. âEin Gastauftritt in der Schwarzwaldklinik? Vielleicht sollte ich dich filmen, dann wirst du dich vor lauter Rollenangeboten gar nicht mehr retten können.â
âDu erinnerst dich noch an die Schwarzwaldklinik?â, fragte Karl. âWar das nicht vor deiner Zeit?â
Maria schnappte sich ihre schicke Kamera, schaltete sie ein, richtete sie auf Karl und sagte mit tiefer Stimme: âIhr Auftritt, Herr Hehn.â
âOkayâ, sagte Karl und spürte, dass er ein wenig nervös wurde. Nicht, dass die Situation, in der er sich befand, nicht schon schlimm genug war, jetzt musste er auch noch seiner Exfreundin einen Plastiksplitter aus der Schulter entfernen, ohne Pinzette und allem. âZuerst werd ich den Splitter rausholen, dann ziehst du dein T-Shirt aus und ich schmier ein bisschen Merfen auf die Wunde.â
âUnd anschlieÃend klebst du mir ein Pflaster drüber und versiegelst es mit einem Küsschen?â
âPflaster gibtâs keine mehrâ, sagte Karl.
Maria deutete mit dem Kinn zum Schreibtisch und sagte: âIch glaub, ich hab welche in meiner Handtasche.â
âEins nach dem anderenâ, sagte Karl und konzentrierte sich auf den Splitter.
Maria fuchtelte mit ihrer Kamera vor seinem Gesicht herum und meinte: âWie willst du den Splitter ohne Pinzette entfernen?â
âMit der Naturmethode.â
âWas ist die Naturmethode?â
Karl beugte sich vor, biss kräftig in den aus dem Fleisch ragenden Teil des Splitters und riss ihn mit einem heftigen Ruck seines Kopfes heraus. Maria stöhnte vor Schmerz auf und krallte ihre Finger um die Holzblüten ihrer Halskette, die sich für einen köstlichen Moment anfühlten wie kühle Fingerspitzen, die sanft über ihre Haut glitten. Karl musterte sie, unterdrückte den Impuls, sie zu küssen, nahm statt dessen den Splitter in die Hand und betrachtete ihn triumphierend. âOperation gelungenâ, sagte er leise.
âPatientin totâ, stöhnte Maria und warf einen vorsichtigen Blick auf die Wunde, die durch das zerfetzte T-Shirt halb
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