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Kolibri

Kolibri

Titel: Kolibri Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jürgen Benvenuti
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gründlich studiert und sechs Jahre investiert. Und hier stand sie nun, mit einer Kamera in der Hand, starrte den Rücken ihres Exfreundes an, über den sie einen Film machte, und dachte, der Kreis hat sich geschlossen. So soll es sein.
    Sie umrundete den nach wie vor auf diesem höllisch unbequem aussehenden Behälter sitzenden Karl, machte ein paar Lichttests, probierte diverse Einstellungen aus, fluchte unterdrückt. „Du musst dieses Fass ein bisschen zur Seite rücken“, sagte sie schließlich und deutete nach links, „du sitzt voll im Schatten, ich hab quasi nur Schwarz auf dem Bild.“
    Mit einem theatralischen Seufzen stand Karl auf und zerrte unter unmenschlichem Gestöhne den Behälter ein paar Meter zur Seite, dann wieder einige Zentimeter in die andere Richtung, ein bisschen vor, dann wieder ein wenig zurück, und schließlich, nach rund fünf Minuten, Karls Geduld war absolut am Ende, reckte Maria den Daumen hoch und nickte. Erleichtert ließ sich Karl auf den Behälter fallen und holte erst mal tief Luft.
    Während der nächsten paar Minuten, die Maria damit zubrachte, ihre Digicam ein letztes Mal zu überprüfen und eine der Türen vorne bei den Rampen ein wenig zu öffnen, um den Lichteinfall zu testen, spürte sie, wie sich eine gewisse Distanz in ihr aufbaute, wie sie mehr und mehr aus ihrer Rolle als Beteiligte glitt und in die der Beobachterin schlüpfte. Wie sie da so stand, mit der Kamera in der Hand, die Situation voll im Griff, war sie nicht mehr Karls Ex, nein, jetzt war sie Maria Eichinger, Reporterin beim Wiener Fernsehsender VC-TV, drauf und dran, die Story des Jahres aufzunehmen.
    Sie warf einen letzten Blick auf Karl, der genau richtig positioniertwar. Das Licht aus den weit oben in der Halle eingelassenen Fenstern kam, durch die verdreckten Scheiben gefiltert, schräg von vorne, der grelle Keil aus ungetrübtem Sonnenlicht, der durch den Spalt der leicht geöffneten Tür fiel, streifte ihn gerade eben so, dass der Kontrast aus hell und dunkel interessant, aber nicht störend war. Sie wollte sich gerade zu ihrer perfekten Arbeit gratulieren, als sie Karls Gesichtsausdruck bemerkte, ein Gesichtsausdruck, den sie nur allzu gut kannte. Und fürchtete. Er zauderte.
    Mit drei schnellen Schritten war sie bei ihm, ging vor ihm in die Knie und stützte sich auf seinen Oberschenkeln ab. „Du wirst doch jetzt nicht schlapp machen, oder?
    Karl druckste ein wenig herum, zerkaute ein paar Silben, die er als unverständliche Brocken ausspuckte, und sagte schließlich: „Na ja, ich meine …“
    â€žWas?“
    Schulterzucken. „Ich weiß nicht.“
    Maria atmete tief durch und versuchte sich zu beruhigen. Es ist nicht deine Sache, sagte sie sich. Wenn er aufgeben will, soll er aufgeben. „Was immer du jetzt tust, versprich mir eins. Wenn wir rausgehen, bekomme ich das erste Interview da draußen.“
    â€žDu bist fürchterlich, weißt du das?“
    â€žIch weiß. Bekomme ich das Interview?“
    Karl grinste. „Nach allem, was du durchgemacht hast? Klar.“
    Maria klatschte vor Erleichterung in die Hände und erhob sich.
    â€žWeißt du eigentlich, woher ich meinen zweiten Vornamen habe?“, fragte Karl plötzlich.
    Maria, die es wusste, schwieg.
    â€žUrsprünglich wollte mich mein Vater Karl Marx Baumgartner nennen, aber er hat sich gedacht, dass ich dann Probleme in der Schule bekomme, deshalb hat er nur den ersten Buchstaben gleich gelassen und sich für Michael entschieden. Hab ich dir das schon erzählt?“
    â€žNur ungefähr tausend Mal“, sagte Maria und strich Karl über den Kopf.
    â€žWirklich? Kann mich gar nicht erinnern.“
    Von draußen drang eine blecherne, offensichtlich von einem Megaphon verstärkte Stimme zu ihnen herein und beendete die Unterhaltung. „Hier spricht Major Kalina, Anton, von der WEGA. Das Geld ist hier. Wo und wie soll die Übergabe stattfinden?“
    â€žNa wo wohl?“, sagte Karl. „Hier drin, ich sitz grad so bequem.“
    â€žVielleicht solltest du das denen da draußen erklären“, sagte Maria.
    â€žKannst das nicht du übernehmen?“
    â€žDie Geisel, die für den Geiselnehmer als Sprecherin auftritt? Ich glaub nicht, dass das gut kommt.“
    Mit gequälter Miene stand Karl auf, schlurfte ein paar Meter Richtung halb geöffneter Tür, brüllte mit

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