Kollaps
Dominikaner leben heute in anderen Staaten, insbesondere in den USA, und schicken Geldbeträge nach Hause, die in beiden Ländern einen bedeutenden Teil der Wirtschaft ausmachen. Auch heute noch gilt die Dominikanische Republik mit einem Pro-Kopf-Einkommen von nur 2200 Dollar im Jahr als armes Land, aber bei meinem Besuch konnte ich viele Anzeichen einer wachsenden Wirtschaft erkennen, unter anderem einen gewaltigen Bauboom und Verkehrsstaus in städtischen Gebieten.
Kehren wir nun vor diesem historischen Hintergrund zu den erstaunlichen Unterschieden zurück, von denen am Anfang dieses Kapitels die Rede war: Warum verlief die politische, wirtschaftliche und ökologische Entwicklung in den beiden Staaten, die sich dieselbe Insel teilen, so unterschiedlich?
Die Antwort liegt zum Teil in ökologischen Unterschieden. Niederschläge kommen auf Hispaniola vorwiegend aus Osten. Deshalb regnet es in der Dominikanischen Republik mehr, und für Pflanzen bieten sich bessere Wachstumsbedingungen. Auch die höchsten Berge der Insel (Höhe über 3000 Meter) liegen auf der östlichen Seite, und in die gleiche Richtung fließen auch die meisten Flüsse, die aus dem Hochgebirge kommen. In der Dominikanischen Republik gibt es weite Täler, Ebenen und Hochebenen mit dicken Bodenschichten; insbesondere das Cibao-Tal im Norden gehört zu den fruchtbarsten landwirtschaftlichen Gebieten der Welt. In Haiti dagegen ist es trockener, weil das Hochgebirge für die Niederschläge aus Osten als Schranke wirkt. Im Verhältnis zur Gesamtfläche ist das Gebirge in Haiti wesentlich größer, das Flachland, das sich für intensive Landwirtschaft eignet, ist kleiner, größere Flächen bestehen aus Kalkstein, und der dünnere, weniger fruchtbare Boden ist in geringerem Umfang zur Erholung fähig. Das Paradox ist auffällig: Die haitianische Seite der Insel war ökologisch weniger gut ausgestattet, und doch entwickelte sich dort früher als auf der Seite der Dominikanischen Republik eine wohlhabende Agrarwirtschaft. Dieser Widerspruch ist damit zu erklären, dass Haiti seinen landwirtschaftlichen Reichtum auf Kosten des ökologischen Kapitals seiner Wälder und Böden erwirtschaftete. Diese Erkenntnis bedeutet letztlich, dass ein scheinbar eindrucksvolles Bankguthaben eine negative Einnahmesituation tarnen kann - ein Thema, auf dass wir im letzten Kapitel dieses Buches zurückkommen werden.
Solche ökologischen Unterschiede trugen zu der unterschiedlichen ökonomischen Entwicklung der beiden Staaten bei, zu einem größeren Teil liegt die Begründung aber in gesellschaftlichen und politischen Unterschieden, die in ihrer Mehrzahl dazu führten, dass die Wirtschaft in Haiti im Vergleich zur Dominikanischen Republik letztlich benachteiligt war. So betrachtet, war die unterschiedliche Entwicklung der beiden Staaten auf vielfältige Weise vorherbestimmt: Zahlreiche Einzelfaktoren lenkten das Ergebnis durch ihr Zusammenwirken in die gleiche Richtung.
Einer dieser gesellschaftlichen und politischen Unterschiede lag in der zufälligen Tatsache, dass Haiti eine Kolonie des reichen Frankreich war und zum wertvollsten Bestandteil im Kolonialreich seines europäischen Mutterlandes wurde, während die Dominikanische Republik zu Spanien gehörte, das Hispaniola seit dem Ende des 16. Jahrhunderts vernachlässigte und sich selbst in einem wirtschaftlichen wie auch politischen Niedergang befand. Deshalb konnte Frankreich in Haiti in die Entwicklung einer intensiven, von Sklaven betriebenen Plantagen-Landwirtschaft investieren, was die Spanier auf ihrer Seite der Insel nicht wollten oder nicht vermochten. Frankreich importierte in seiner Kolonie weitaus mehr Sklaven als Spanien. Deshalb hatte Haiti in der Kolonialzeit eine siebenmal höhere Einwohnerzahl als sein Nachbar, und selbst heute ist die Bevölkerung mit etwa zehn Millionen gegenüber 8,8 Millionen noch geringfügig größer. Haiti hat aber nur etwas mehr als die Hälfte der Fläche der Dominikanischen Republik, sodass seine Bevölkerungsdichte wegen der höheren Einwohnerzahl und der geringeren Fläche doppelt so groß ist. Hohe Bevölkerungsdichte und geringere Niederschlagsmengen waren die wichtigsten Gründe, warum Wälder und Bodenfruchtbarkeit auf der haitianischen Seite schneller verloren gingen. Außerdem kehrten alle französischen Schiffe, die Sklaven nach Haiti brachten, mit haitianischem Holz beladen nach Europa zurück, sodass die Niederungen und die mittleren Höhen der Gebirgshänge in Haiti
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