Kollaps
Belastbarkeit seiner Augen: Während ich den Knochen eines Rotkehlchens nicht von dem einer Taube oder auch einer Ratte unterscheiden könnte, hat Dave gelernt, sogar die Knochen von einem Dutzend eng verwandter Sturmvogelarten auseinander zu halten. Auf diese Weise konnte er beweisen, dass die Osterinsel, auf der es heute keine einzige einheimische Landvogelart gibt, früher mindestens sechs solche Arten beherbergte, darunter eine Reiherart, fünf hühnerähnliche Rallen, zwei Papageien und eine Schleiereule. Noch eindrucksvoller jedoch war die Gesamtzahl von mindestens 25 Seevogelarten, die auf der Osterinsel nisteten und sie zum reichhaltigsten Nistplatz in ganz Polynesien und vermutlich sogar im ganzen Pazifikraum machten. Albatrosse, Tölpel, Fregattvögel, Eissturmvögel, Sturmvögel, Seeschwalben und Tropikvögel fühlten sich nicht nur durch die abgelegene Lage der Osterinsel angezogen, sondern da es dort keinerlei Raubtiere gab, war sie eine sichere Zuflucht zum Nisten - bis die Menschen kamen. Dave entdeckte auch ein paar Knochen von Robben, die heute weit östlich von der Osterinsel auf den Galapagosinseln und der Insel Juan Fernandez zu Hause sind; ob sie aber aus ähnlichen Brutkolonien auf der Osterinsel stammen oder von einzelnen, verirrten Tieren, ist nicht gesichert.
Aus den Ausgrabungen in Anakena, bei denen diese Vogel- und Robbenknochen zum Vorschein kamen, können wir viele Rückschlüsse über Ernährung und Lebensweise der ersten Siedler auf der Osterinsel ziehen. Von den 6433 Wirbeltierknochen, die man in ihren Abfallhaufen identifizieren konnte, gehört der größte Prozentsatz - mehr als ein Drittel der Gesamtmenge - zu dem größten Tier, das den Inselbewohnern zur Verfügung stand: zum Gemeinen Delphin, der bis zu 75 Kilo schwer wurde. Das ist erstaunlich: An keiner anderen Stelle in Polynesien tragen Delphine auch nur ein Prozent zu den Knochen in den Abfallhaufen bei. Der Gemeine Delphin lebt in der Regel auf dem offenen Meer, sodass man ihn nicht von der Küste aus mit Angelleinen oder Speeren jagen konnte. Man musste ihn weit draußen mit Harpunen erlegen, und dazu brauchte man große, seetüchtige Kanus, die aus den großen, von Catherine Orliac nachgewiesenen Bäumen gebaut worden.
In den Abfallhaufen findet man auch Fischknochen, aber die machen hier nur 23 Prozent aller Knochen aus, während Fische an anderen Stellen in Polynesien mit mindestens 90 Prozent aller Knochen das Hauptnahrungsmittel waren. Dass Fische auf der Osterinsel nur so wenig zur Ernährung beitrugen, lag an der zerklüfteten Küste und den steil abfallenden Stellen im Meeresboden; beides führte dazu, dass man Fische nur an wenigen Stellen im flachen Wasser mit Netzen oder Angelleinen fangen konnte. Aus dem gleichen Grund stellten auch Muscheln und Seeigel auf der Osterinsel nur einen geringen Anteil an der Ernährung. Zum Ausgleich gab es die vielen Seevögel und die Landvögel. Ergänzt wurde das Vogelfleisch durch das Fleisch der vielen Ratten, die als blinde Passagiere in den Kanus der polynesischen Siedler auf die Osterinsel gekommen waren. Die Osterinsel ist in ganz Polynesien die einzige Stelle, wo Rattenknochen an den archäologischen Fundstätten zahlreicher sind als Fischknochen. Wer nun zimperlich ist und Ratten für ungenießbar hält, dem möchte ich berichten, was ich Ende der fünfziger Jahre des 20. Jahrhunderts erlebte, als ich in England wohnte: Damals kursierten Rezepte für Laborratte in Sahnesauce, und meine britischen Biologenkollegen, die die Tiere für ihre Experimente hielten, ergänzten damit in den Kriegsjahren, als Lebensmittel rationiert waren, ihre Ernährung.
Mit Delphinen, Fischen, Muscheln, Vögel und Ratten war die Liste der Fleischlieferanten, die den ersten Siedlern auf der Osterinsel zur Verfügung standen, noch nicht zu Ende. Ich habe bereits einige Robbenfunde erwähnt, und andere Knochen belegen, dass gelegentlich auch Meeresschildkröten sowie vielleicht große Echsen auf dem Speisezettel standen. Alle diese Köstlichkeiten wurden über Holzfeuern gegart, deren Brennmaterial nachweislich aus den später verschwundenen Wäldern der Osterinsel stammte.
Beim Vergleich dieser alten Mülllager mit solchen aus späterer prähistorischer Zeit und mit den heutigen Verhältnissen auf der Osterinsel stellt sich heraus, dass die anfangs sehr üppigen Nahrungsquellen sich nach und nach stark wandelten. Delphine und Fische aus dem offenen Meer, beispielsweise Thunfische,
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