Kollaps
auf Pitcairn und Henderson gegründet wurden, stellten die Kanus mit den Importen eine Nabelschnur dar, die für die Besiedlung und Versorgung der neuen Kolonien unentbehrlich war, bevor sie später ihre Rolle als dauerhafte Lebensader annahm.
Was die Produkte angeht, die Henderson im Gegenzug nach Pitcairn und Mangareva exportierte, können wir nur Vermutungen anstellen. Es muss sich um vergängliche Gegenstände gehandelt haben, die an den archäologischen Fundstätten der beiden anderen Inseln nicht erhalten geblieben sind, denn Steine oder Muschelschalen, deren Export sich gelohnt hätte, gab es auf Henderson nicht. Infrage kämen unter anderem lebende Meeresschildkröten: Sie wurde als prestigeträchtiges Luxuslebensmittel überall vor allem von den Häuptlingen verzehrt wie heute Trüffel oder Kaviar. Ein zweites potenzielles Exportgut sind rote Federn der Papageien, Rotlatz-Fruchttauben und Rotschwanz-Tropikvögel von Henderson - rote Federn waren in Polynesien ebenfalls ein Luxusgut, das ganz ähnlich wie heute Gold und Zobelpelze zur Herstellung von Schmuck und Kleidungsstücken diente.
Aber damals wie heute war der Austausch von Rohstoffen, Fertigwaren und Luxusgütern nicht der einzige Beweggrund für den Handel und große Reisen über das Meer. Auch nachdem die Bevölkerung auf Pitcairn und Henderson ihre maximal mögliche Größe erreicht hatte, war sie so klein - in einem Fall ungefähr 100, im anderen nur einige Dutzend Menschen -, dass Menschen im heiratsfähigen Alter auf der eigenen Insel kaum Partner fanden, und in den meisten Fällen handelte es sich bei solchen potenziellen Partnern um enge Verwandte, die dem Inzesttabu unterlagen. Demnach war der Austausch von Ehepartnern eine weitere wichtige Funktion des Handels mit Mangareva. Außerdem dürfte er dazu gedient haben, qualifizierte Handwerker mit technischen Fähigkeiten aus der großen Bevölkerung von Mangareva nach Pitcairn und Henderson zu bringen und auch Nutzpflanzen wieder einzuführen, die auf den kleinen landwirtschaftlich nutzbaren Flächen der beiden Inseln zufällig ausgestorben waren. Aus den gleichen Gründen waren in jüngerer Zeit auch die europäischen Nachschubflotten nicht nur für die Besiedlung und Versorgung der Überseekolonien in Amerika und Australien unentbehrlich, sondern auch für ihren Unterhalt, denn bis sie sich auch nur ansatzweise selbst versorgen konnten, verging viel Zeit.
Aus der Sicht der Bewohner von Mangareva und Pitcairn dürfte der Handel mit Henderson noch eine weitere Funktion erfüllt haben. Die Reise von Mangareva nach Henderson dauert mit polynesischen Segelkanus vier bis fünf Tage; von Pitcairn nach Henderson gelangt man in nur einem Tag. Meine eigenen Eindrücke von Seereisen in den Kanus der Einheimischen aus dem Pazifikraum habe ich auf viel kürzeren Reisen gesammelt, aber auch dabei lebte ich in der ständigen Angst, das Kanu könne kentern oder auseinander brechen, und in einem Fall wäre ich tatsächlich fast ums Leben gekommen. Der Gedanke an eine mehrtägige Kanureise über das offene Meer erscheint mir unerträglich, wie eine Verzweiflungstat, die ich nur unternehmen würde, um mein Leben zu retten. Für die heutigen Seefahrer im Pazifik jedoch, die fünf Tage mit dem Kanu fahren, nur um Zigaretten zu holen, sind solche Reisen ein ganz normaler Bestandteil des Lebens. Die früheren polynesischen Bewohner von Mangareva oder Pitcairn sahen in einem einwöchigen Besuch auf Henderson vermutlich einen großartigen Ausflug, auf dem man sich an Schildkröten, ihren Eiern und den Millionen Seevögeln der Insel gütlich tun konnte. Insbesondere für die Bewohner von Pitcairn, auf deren Insel es weder Riffe noch eine ruhige Lagune oder üppige Muschelbänke gab, war Henderson wegen der Fische und Schalentiere sowie wegen der Möglichkeit, sich am Strand zu entspannen, sicher attraktiv. Aus den gleichen Gründen nutzen auch heute die Nachkommen der Meuterer von der Bounty, die sich auf ihrer winzigen Insel langweilen, mit Begeisterung jede Gelegenheit, ein paar hundert Kilometer entfernt am Strand eines Korallenatolls »Urlaub« zu machen.
Wie sich herausstellte, war Mangareva die geographische Drehscheibe eines wesentlich größeren Handelsnetzes, in dem die Seereise nach Pitcairn und Henderson, einige hundert Kilometer in südöstlicher Richtung, noch die kleinste Etappe war. Die längeren Routen, jede etwa 1600 Kilometer lang, verbanden Mangareva mit den Marquesas-Inseln im Nordnordwesten,
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