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Kollaps

Kollaps

Titel: Kollaps Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jared Diamond
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Schichten der archäologischen Fundstätten an der Nordostküste von Henderson findet man keine Gehäuse der essbaren Posthornschnecken mehr, und die Zahl der Turbanschnecken geht zurück, auch dies ein Indiz, dass die Schalentiere übermäßig ausgebeutet wurden.
    Dass der Handel zwischen den Inseln Südostpolynesiens zum Erliegen kam, lag also an Umweltschäden, die zu gesellschaftlichem und politischem Chaos sowie zu einem Mangel an Holz für Kanus führten. Nachdem der Handel eingestellt war, verschärften sich die Probleme für die Bewohner von Mangareva, die nun von Pitcairn sowie von den Marquesas- und Gesellschaftsinseln und damit auch von hochwertigem Gestein zur Werkzeugherstellung abgeschnitten waren. Noch schlimmer waren die Folgen für die Bewohner von Pitcairn und Henderson: Auf diesen Inseln lebte am Ende niemand mehr.
    Dass die Bevölkerung von Pitcairn und Henderson verschwand, muss auf irgendeine Weise daran gelegen haben, dass die Nabelschnur zu Mangareva durchschnitten war. Das Leben auf Henderson war immer schwierig gewesen und wurde noch anstrengender, nachdem es kein importiertes Vulkangestein mehr gab. Gingen alle Bewohner gleichzeitig in einer Art Massenkrise zugrunde, oder schwand die Bevölkerung allmählich dahin, bis nur noch ein einziger Überlebender viele Jahre mit seinen Erinnerungen allein war? Dieses Schicksal ereilte die Indianerbevölkerung auf San Nicolas Island bei Los Angeles, wo schließlich nur noch eine einzige Frau übrig war, die völlig isoliert die letzten 18 Jahre ihres Lebens verbrachte. Hielten die letzten Bewohner von Henderson sich Generation für Generation an den Stränden auf, und starrten sie aufs Meer in der Hoffnung auf die Kanus, die nun nicht mehr kamen, bis selbst die Erinnerung daran, wie ein Kanu aussah, immer mehr verblasste?
    Auch wenn wir nicht in allen Einzelheiten wissen, wie das menschliche Leben auf Pitcairn und Henderson allmählich verlosch, kann ich mich von diesem rätselhaften Drama nicht losreißen. Vor meinem geistigen Auge läuft der Film immer wieder mit einem anderen Ende ab, und als Leitfaden für meine Spekulationen dient mir dabei das, was ich über einige andere isolierte Gesellschaften und ihr Schicksal tatsächlich weiß. Wenn Menschen gemeinsam in einer ausweglosen Situation sind und keine Möglichkeit der Auswanderung besteht, können Feinde ihre Spannungen nicht mehr dadurch beilegen, dass sie weggehen. Solche Spannungen könnten sich im Massenmord entladen haben wie später, als die Kolonie der Meuterer von der Bounty auf Pitcairn fast auf diese Weise ausgelöscht worden wäre. Auch Nahrungsknappheit und Kannibalismus könnten Mordmotive gewesen sein, wie es auf Mangareva und der Osterinsel der Fall war. Vielleicht entschlossen sich verzweifelte Menschen zum Massenselbstmord wie vor einiger Zeit 39 Mitglieder des »Heavens Gate«-Kultes nicht weit von San Diego in Kalifornien. Die Verzweiflung könnte aber auch zu geistiger Umnachtung geführt haben wie bei einigen Teilnehmern der belgischen Antarktisexpedition, deren Schiff 1898/99 über ein Jahr lang vom Eis eingeschlossen war. Ein anderes katastrophales Ende könnte der Hungertod gewesen sein wie in der japanischen Garnison, die im Zweiten Weltkrieg auf der Insel Wake abgeschnitten wurde, und verschlimmert wurde alles vielleicht noch durch Dürre, Taifune, Tsunamis oder eine andere Umweltkatastrophe.
    Dann fallen mir freundlichere Enden für den Film ein. Nach einigen Generationen der Einsamkeit auf Pitcairn oder Henderson war jeder und jede in dieser kleinen Gesellschaft von 100 oder auch nur einigen Dutzend Menschen der Cousin oder die Cousine jedes anderen, und man konnte keine Ehe mehr schließen, ohne das Inzesttabu zu verletzen. Vielleicht wurden die Menschen also alle gemeinsam alt und hatten keine Kinder mehr - so erging es den letzten überlebenden Yahi-Indianern in Kalifornien, dem berühmten Ishi und seinen drei Begleitern. Falls die kleine Bevölkerung dass Inzesttabu außer Acht ließ, könnte es durch die nachfolgende Inzucht zu einer Vermehrung angeborener körperlicher Missbildungen gekommen sein, wie es auf der Insel Martha’s Vineyard vor Massachusetts mit der Taubheit oder auf der abgelegenen Atlantikinsel Tristan da Cunha geschah.
    Wie das Ende auf Pitcairn und Henderson tatsächlich aussah, werden wir wahrscheinlich nie erfahren. Aber unabhängig von den Einzelheiten ist der große Umriss der Geschichte deutlich zu erkennen. Auf Mangareva, Pitcairn und

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