Kollaps
Umwälzungen, bevor Kolumbus 1492 in die Neue Welt kam, aber als Volk verschwanden die Anasazi nicht: Ein Teil ihrer Nachkommen wurde von anderen Gesellschaften der amerikanischen Ureinwohner aufgenommen, die es noch heute gibt, beispielsweise von den Pueblo-Indianerstämmen der Hopi und Zuni. Was waren die Ursachen für den Niedergang oder derart abrupte Veränderungen in so vielen benachbarten Gesellschaften?
Als beliebteste Einzelursachen werden Umweltschäden, Dürre, Kriegsführung und Kannibalismus genannt. Aber eigentlich ist die Vorgeschichte des nordamerikanischen Südwestens ein Friedhof solcher Einzelfaktor-Erklärungen. In Wirklichkeit waren zahlreiche Faktoren am Werk, aber alle lassen sich auf das Grundproblem zurückführen, dass die Umwelt im Südwesten der USA empfindlich ist und sich nicht für die Landwirtschaft eignet - genau wie heute in vielen anderen Teilen der Welt. Der Niederschlag ist gering und unberechenbar, der Boden wird schnell ausgelaugt, und Wälder wachsen nur sehr langsam nach. Umweltprobleme, insbesondere größere Dürreperioden oder die Erosion von Flussbetten, wiederholen sich in der Regel in Zeitabständen, die viel länger sind als die Lebenszeit eines Menschen oder die Zeitspanne der mündlichen Überlieferung. Angesichts solcher Schwierigkeiten ist es erstaunlich, dass die Ureinwohner im Südwesten Nordamerikas derart vielschichtige bäuerliche Gesellschaften entwickelten. Für ihren Erfolg spricht unter anderem, dass heute in großen Teilen ihres Gebietes nur eine viel kleinere Bevölkerung vom Anbau eigener Lebensmittel leben kann als zur Zeit der Anasazi. Für mich war es ein bewegendes, unvergessliches Erlebnis, durch die Wüstengebiete mit den verstreuten Überresten früherer Steinhäuser, Dämme und Bewässerungssysteme der Anasazi zu fahren, die in einer heute praktisch völlig menschenleeren Landschaft stehen, wo nur hier und da gelegentlich ein Haus bewohnt ist. Der Zusammenbruch der Anasazi und anderer Gesellschaften im Südwesten der Vereinigten Staaten liefert uns nicht nur eine ergreifende Geschichte, sondern sie ist im Zusammenhang dieses Buches auch lehrreich, macht sie doch sehr gut unsere Themen deutlich: die Wechselbeziehungen zwischen Eingriffen der Menschen in die Umwelt und Klimaveränderungen; Umwelt- und Bevölkerungsprobleme, die in Kriege münden; Stärken und Schwächen komplizierter Gesellschaften, die sich nicht selbst erhalten können, sondern auf Import und Export angewiesen sind; und Gesellschaften, die nach einem Höhepunkt von Bevölkerungszahl und Macht sehr schnell in sich zusammenfallen.
Dass wir über die Vorgeschichte des Südwestens so detaillierte Kenntnisse besitzen, liegt daran, dass die Archäologen sich in dieser Region zweier Vorteile erfreuen können.
Eine ist die Buschratten-Abfallhaufenmethode, die ich im Folgenden noch genauer erläutern werde: Sie liefert uns wie eine Zeitkapsel Aufschlüsse über die Pflanzen, die wenige Jahrzehnte vor oder nach einem berechneten Datum im Umkreis weniger Dutzend Meter um einen Abfallhaufen wuchsen. Aufgrund dieses Vorteils konnten die Paläobotaniker den Wandel der örtlichen Vegetation nachzeichnen. Der zweite Vorteil ermöglicht es den Archäologen, bebaute Orte auf das Jahr genau zu datieren; dazu benutzen sie die Jahresringe der jeweils zum Bau verwendeten Holzbalken, sodass sie im Gegensatz zu den Archäologen in anderen Gebieten nicht auf die Radiokarbonmethode zurückgreifen müssen, die zwangsläufig eine Fehlerspanne von 50 bis 100 Jahren beinhaltet.
Grundlage der Jahresringe-Methode ist die Tatsache, dass Niederschlag und Temperatur im Südwesten jahreszeitlichen Schwankungen unterworfen sind, und entsprechend schwankt - genau wie an anderen Stellen in den gemäßigten Breiten - auch die Wachstumsgeschwindigkeit der Bäume je nach der Jahreszeit. Deshalb legen die Bäume in den gemäßigten Klimazonen neues Holz in jährlichen Wachstumsringen an, während das Wachstum der Bäume in den tropischen Regenwäldern nahezu kontinuierlich verläuft. Für Untersuchungen der Jahresringe eignen sich die Bäume im Südwesten aber besser als in den meisten anderen gemäßigten Zonen, denn das trockene Klima hat zur Folge, dass Holzbalken ausgezeichnet erhalten bleiben, selbst wenn der betreffende Baum schon vor über 1000 Jahren gefällt wurde.
Die Datierung mit Hilfe der Jahresringe, mit dem Fachausdruck Dendrochronologie genannt (von den griechischen Wörtern dendron = Baum und chronos
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