Kollaps
waren auch die Bewohner des Chaco Canyon unwiderruflich auf das Leben in den gegenseitigen Abhängigkeiten einer komplexen Gesellschaft festgelegt. Zu dem ursprünglichen Zustand mit kleinen, beweglichen Gruppen, die sich selbst versorgten, konnten sie nicht mehr zurückkehren: Im Canyon gab es keine Bäume mehr, die Arroyos waren bis unter das Niveau der Felder eingeschnitten, und die wachsende Bevölkerung hatte sich über die Region verbreitet, sodass man nicht mehr in geeignete Gebiete ausweichen konnte. Als die Arizonakiefern und Wacholderbäume gefällt waren, wurden die Nährstoffe in dem Humus unter den Bäumen weggespült. Noch heute, über 800 Jahre später, wachsen diese Bäume hier nirgendwo -nur die Bauten der Buschratten enthalten noch ihre Zweige. An den archäologischen Fundstätten zeigen die Lebensmittelreste im Abfall, dass es für die Bewohner des Canyons im Lauf der Zeit problematischer wurde, sich zu ernähren: Hirsche machten einen immer geringeren Anteil der Ernährung aus, und an ihre Stelle traten kleinere Wildtiere, insbesondere Kaninchen und Mäuse. Überreste vollständiger, kopfloser Mäuse in menschlichen Koprolithen (eingetrockneten und deshalb erhaltenen Exkrementen) lassen darauf schließen, dass Menschen die Mäuse auf den Feldern fingen, ihnen den Kopf abschnitten und sie dann im Ganzen schluckten.
Am Pueblo Bonito fand in dem Jahrzehnt nach 1110 die letzte nachgewiesene Baumaßnahme statt: Die Südseite des Vorplatzes, die früher nach außen offen gewesen war, wurde durch eine Reihe von Räumen geschlossen. Das lässt auf Streit schließen: Offensichtlich kamen die Menschen jetzt nicht nur zum Pueblo Bonito, um an religiösen Zeremonien teilzunehmen und Befehle zu empfangen, sondern auch um Ärger zu machen. Der letzte Dachbalken am Pueblo Bonito und dem benachbarten Großen Haus Chetro Ketl, den man mit der Jahresringe-Methode datieren konnte, wurde im Jahr 1117 gefällt, und der letzte Balken, den man überhaupt im Chaco Canyon gefunden hat, stammt von 1170. An anderen Wohnorten der Anasazi findet man wesentlich mehr Spuren von Streit bis hin zu Anzeichen für Kannibalismus. Auch die Siedlungen der Kayenta-Anasazi, die auf steilen Klippen weit weg von Feldern und Wasser liegen, sind eigentlich nur unter dem Gesichtspunkt zu deuten, dass sie sich leicht verteidigen lassen. An diesen Orten im Südwesten, die Chaco überdauerten und bis zum Jahr 1250 überlebten, nahm die Kriegführung offensichtlich an Heftigkeit zu; dies zeigt sich an einer immer größeren Zahl von Abwehrmauern, Burggräben und Türmen; kleine Gehöfte schlossen sich zu größeren Festungen auf den Bergen zusammen, Dörfer wurden offenbar absichtlich unter Zurücklassung nicht bestatteter Leichen abgebrannt, Schädel tragen Schnittspuren, die durch das Skalpieren verursacht wurden, und ein Skelett hatte Pfeilspitzen in der Körperhöhle. Die explosionsartige Zunahme von Umwelt- und Bevölkerungsproblemen, die ihren Ausdruck in inneren Unruhen und Krieg finden, ist in diesem Buch ein immer wiederkehrendes Thema, sowohl in Verbindung mit früheren Gesellschaften (Osterinsel, Mangareva, Maya und Tikopia) als auch bei solchen aus unserer Zeit (Ruanda, Haiti und andere).
Die Anzeichen, dass es bei den Anasazi im Zusammenhang mit dem Krieg auch zum Kannibalismus kam, ergeben wiederum eine ganz eigene, interessante Geschichte. Dass verzweifelte Menschen in Notsituationen gelegentlich Kannibalismus praktizieren, würde jeder einräumen - Beispiele sind die Donner Party, Siedler, die im Winter 1846/47 auf dem Weg nach Kalifornien am Donner-Pass im Schnee stecken blieben, oder die hungernden Russen während der Belagerung Leningrads im Zweiten Weltkrieg; ob Kannibalismus jedoch auch außerhalb solcher Notlagen vorkommt, ist umstritten. In Wirklichkeit existierte er den Berichten zufolge in Hunderten nichteuropäischer Gesellschaften bis zu der Zeit in den letzten Jahrhunderten, als sie zum ersten Mal mit Europäern in Kontakt kamen. Es gab dabei zwei Formen: Entweder wurden die Leichen der im Krieg getöteten Feinde gegessen, oder man verzehrte die eigenen Angehörigen, die eines natürlichen Todes gestorben waren. Die Bewohner Neuguineas, mit denen ich schon seit 40 Jahren zusammenarbeite, haben mir ganz nüchtern ihre kannibalischen Praktiken geschildert, und gleichzeitig äußerten sie Abscheu gegenüber unserer abendländischen Sitte, Angehörige zu vergraben, anstatt sie zu ehren, indem man sie aufisst; einer
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