Kolumbus' Erbe: Wie Menschen, Tiere, Pflanzen die Ozeane überquerten und die Welt von heute schufen (German Edition)
noch nicht einmal weiß, was ein Anwalt ist.
In Ban Songma, der nächsten Siedlung an der Straße, war der Dorfvorsteher, der den Vertrag ausgehandelt hatte, ungefähr dreißig Jahre alt. An dem Tag, als wir uns trafen, trug er ein weißes T-Shirt und eine Turnhose mit dem Emblem von Bayern München. Neben ihm stand seine Frau und hielt ein Baby auf dem Arm, das in eine verwaschene Hello-Kitty-Decke gewickelt war. Ich fragte ihn nach dem Namen des Kautschukunternehmens, wie viel Land das Dorf ihm zur Verfügung stellen sollte und wie die Erlöse aufgeteilt wurden. Diese Fragen konnte er nicht beantworten. Nicht, weil er dumm war – er war ein schlauer und flotter junger Mann –, sondern weil die Fragen außerhalb seines Horizontes lagen. Um sich im modernen Wirtschaftsleben zurechtzufinden, braucht man eine Reihe von Verhaltensweisen, Voraussetzungen und Erwartungen. Noch vor zehn Jahren brauchte man kaum dergleichen in Ban Songma. Manches davon wäre sogar hinderlich gewesen. Auf dem verminten Gelände des globalisierten Kapitalismus aber war dieser Dorfvorsteher so verloren wie einst Neville Craig auf dem Rio Madeira. Dass es ihn nach den Früchten des Kapitalismus verlangte – chinesischen Motorrädern, japanischen Fernsehapparaten und Nylonshorts mit den Abzeichen europäischer Fußballmannschaften –, machte einen glücklichen Ausgang des Projekts nicht wahrscheinlicher.
Huipeng hatte bereits chinesische Arbeiter zum Pflanzen der Sämlinge geholt. Der Dorfvorsteher wusste nicht, ob man ihm und seinen Nachbarn beibringen würde, die Bäume selbst zu okulieren, Latex zu zapfen oder die erste Phase der Kautschukverarbeitung vorzunehmen. Aber er wusste, dass Menschen, die für die Chinesen arbeiteten, am Ende Motorräder hatten, die ihnen ersparten, stundenlang steile Hügel hoch- und runterzuklettern. Wenn das Baby in der Hello-Kitty-Decke erwachsen ist, wird es über die verwirrende neue Welt, in die Ban Songma gerade eintritt, mehr wissen als sein Vater. Huipengs Vertrag hat eine Laufzeit von vierzig Jahren. Es wird interessant sein, wie das Kind die Vereinbarung beurteilen wird, die sein Vater einst unterzeichnet hat. [538]
Das Ende der Welt
Der Morgen war klar und hell, was nichts Gutes versprach. Auf der Fußgängerbrücke, die zum Tropischen Botanischen Garten von Xishuangbanna ( XTBG ) führt, konnte ich keinen Anflug von Nebel auf den Hügeln sehen. Auf der Sonnenseite des Gebäudes hatten die Wissenschaftler die Vorhänge vorgezogen. Der 1959 gegründete Garten war mit Xishuangbannas Kautschukindustrie gewachsen. Nun verfolgte eine Vielzahl von Forschern die Auswirkungen, die die Umgestaltung des regionalen Ökosystems hatte, und ihnen gefiel gar nicht, was sie sahen. «Alle hassen wir den Kautschuk», meinte ein Wissenschaftler zu mir. «Aber wir betrachten das auch alle unter ökologischen Gesichtspunkten.»
Zwar fallen im Goldenen Dreieck bis zu zweieinhalb Meter Regen im Jahr, davon aber drei Viertel zwischen Mai und Oktober. Den Rest des Jahres überlebt der Wald überwiegend mit dem Tau des Morgennebels. «In den 1980 er und 1990 er Jahren hatten wir mittags noch immer Nebel», erzählte mir der XTBG -Ökologe Tang Jianwei. «Jetzt ist er um elf verschwunden.» Die «sehr offenkundige» Veränderung sei ein Symptom für den tiefgreifenden hydrologischen Wandel.
Der Kautschuk sei verantwortlich, sagt Tang.
H. brasiliensis
wirft sein Laub gewöhnlich im Januar ab, und die neuen Blätter beginnen Ende März zu knospen. Wenn die Bäume ohne Blätter sind, hat der Wald weniger Fläche, um Tau aufzufangen, wodurch sich die Wasserabsorption während der Trockenzeit verringert. Der Oberflächenabfluss steigt um einen Faktor vier – was wiederum die Bodenerosion um den bemerkenswerten Faktor fünfundvierzig erhöht. Schlimmer noch, am intensivsten ist das Blätterwachstum im April, auf dem Höhepunkt der Trockenzeit, wenn die Hitze am größten ist. Um das Wachstum voranzutreiben, saugen die Wurzeln das Wasser ein bis zwei Meter unter der Erdoberfläche auf. Das Zapfen beginnt, wenn die neuen Blätter erscheinen, und wird fortgesetzt, bis sie fallen. Um den verlorenen Latex zu ersetzen, saugen die Wurzeln noch mehr Wasser aus dem Boden auf. Wie viel Wasser? Tang nahm eine Überschlagsrechnung mit Papier und Bleistift vor. Ein halbes Kilogramm Latex pro Tag und Baum, bei zwanzig Zapftagen pro Monat und hundertachtzig Bäumen pro Acre … guter Latex besteht zu sechzig bis siebzig Prozent aus
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