Kolyma
wegnehmen!«
Stawski trat noch näher heran, jetzt flüsterte er wieder. »Ich werde Elena jetzt sagen, dass sie mit diesen Pflegern nach Kasan fahren wird. Ich werde ihr sagen, dass sie Sie nicht mehr wiedersieht. Ich bin mir ziemlich sicher, dass sie sich nicht wehren wird. Sie wird mit zwei Fremden aus diesem Raum marschieren und sich noch nicht einmal umdrehen. Und wenn sie das tut, werden Sie mir dann glauben, dass Sie ihr nicht helfen können?«
»Ich weigere mich, diese Probe anzuerkennen.«
Stawski ignorierte sie, hockte sich stattdessen wieder hin und sprach Elena laut und deutlich an. »Elena, wir bringen dich jetzt in ein ganz besonderes Krankenhaus. Da werden sie versuchen, dich wieder gesund zu machen. Es kann aber sein, dass du Raisa nie mehr wiedersiehst. Aber ich bin mir sicher, dass man sich gut um dich kümmern wird. Diese Männer werden dir helfen. Wenn du nicht mit ihnen gehen willst, wenn du dableiben willst, hier bei Raisa, dann musst du uns das nur sagen. Du musst nur Nein sagen, Elena. Verstehst du mich? Du musst nur Nein sagen.« Elena gab keine Antwort.
Am selben Tag
Timurs Witwe Inessa öffnete die Tür. Leo betrat die Wohnung. In den ersten Monaten nach seiner Rückkehr aus Kolyma hatte er immer noch erwartet, dass Timur plötzlich aus der Küche kommen und erklären würde, er sei gar nicht umgebracht worden, sondern habe überlebt und es bis nach Hause geschafft. Es war schlichtweg unmöglich, sich dieses Zuhause ohne Timur vorzustellen. Hier, im Kreise seiner Familie, war er immer am glücklichsten gewesen.
Doch die Zuweisung von Wohnraum war ein erbarmungsloser Prozess. Nach den Berechnungen des Systems bedeutete Timurs Tod klipp und klar, dass die Familie weniger Platz benötigte. Außerdem war ihre moderne Wohnung eine berufliche Vergünstigung gewesen. Inessa selbst arbeitete in einer Textilfabrik, und ihre Kolleginnen und Kollegen mussten mit erheblich bescheideneren Behausungen vorliebnehmen. Unter Zuhilfenahme seines blat, seiner Beziehungen, hatte Leo alles getan, um zu erreichen, dass die Familie bleiben konnte, wo sie war. Sogar um Frol Panins Intervention hatte er gebeten. Vielleicht hatte Panin sich irgendwie verantwortlich für Timurs Tod gefühlt, denn er hatte zugestimmt. Doch zu Leos Überraschung hatte Inessa sogar mit dem Gedanken gespielt auszuziehen. Hier verströmte doch jedes Zimmer nur die Erinnerungen an Timur, die sie erstickten und so traurig machten, dass sie kaum noch ihren Alltag bewältigen konnte. Erst als Leo ihr den Plattenbau gezeigt hatte, in den man sie umsiedeln wollte, eine Einzimmerwohnung mit dünnen Wänden und einer Gemeinschaftstoilette, hatte sie nachgegeben, aber nur wegen ihrer beiden Söhne. Wäre sie allein gewesen, wäre sie noch am selben Tag ausgezogen.
Leo umarmte Inessa und reichte ihr, als sie sich wieder getrennt hatten, den Brotlaib.
»Wo kommt der denn her?«
»Aus der Bäckerei unter unserem Büro.«
»Timur hat nie Brot mit nach Hause gebracht.«
»Die Leute, die dort arbeiten, hatten zu viel Angst, um mit uns zu sprechen.«
»Jetzt aber nicht mehr?«
»Nein.«
Wie ein Schatten legte sich Traurigkeit auf Inessas Gesicht. Das Morddezernat war auch Timurs ganzer Stolz gewesen. Jetzt existierte es nicht mehr.
Ihre beiden Söhne, der zehnjährige Jefim und der achtjährige Wadim, kamen aus ihrem Zimmer gelaufen, um Leo zu begrüßen. Obwohl Timur für Leo gearbeitet hatte, als er umgekommen war, trugen seine Söhne Leo nichts nach. Im Gegenteil, seine Besuche freuten sie immer. Sie wussten, dass Leo Timur sehr gemocht und ihr Vater Leo ebenso sehr gemocht hatte. Trotzdem stand ihre Zuneigung für Leo auf tönernen Füßen, und eines Tages würde sie zerbrechen. Noch wussten sie nicht in allen Einzelheiten, was passiert war. Noch ahnten sie nicht, dass ihr Vater bei dem Versuch gestorben war, die bösen Taten aus Leos Vergangenheit wiedergutzumachen.
Inessa strich Jefim über die Haare, während der aufgeregt über seine Schulleistungen und die Sportmannschaft berichtete, der er angehörte. Als Ältester würde er einmal Timurs Uhr bekommen, wenn er achtzehn wurde. Leo hatte das zerbrochene Glas und das Uhrwerk ersetzen lassen - das kaputte Werk hatte er behalten; er konnte es einfach nicht wegwerfen. Manchmal holte er es heraus und legte es sich auf die Handfläche. Inessa hatte sich noch nicht entschieden, welche Geschichte sie Jefim über die Ursprünge der Uhr erzählen sollte, ob sie wirklich lügen und das
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