Kolyma
man sich normalerweise gewandt hätte, um einem siebenjährigen Kind helfen zu lassen.
In ihren Gesprächen hatte Leo immer wieder betont, er sei gegen eine ärztliche Behandlung. Viele von denen, die er wegen politischer Vergehen verhaftet hatte, waren in ein Krankenhaus wie dieses, eine psichuschka, geschickt worden. Leo gab zwar widerwillig zu, dass auch in einem grausamen System durchaus fähige Ärzte arbeiteten, aber er glaubte nicht, dass der mögliche Vorteil ihrer Erfahrung das Risiko wert war, diese Männer und Frauen aufzusuchen. Sich selbst für gestört zu erklären hieß, sich als Außenseiter der Gesellschaft zu deklarieren - keine Position, die Eltern sich für ihr Kind wünschten. Aber seine Haltung schien ihr weniger grundsätzlicher Vorsicht als einer störrischen Verbissenheit zu entspringen, einer blinden Entschlossenheit, dass niemand anderer als er selbst diese Familie wieder ins Lot bringen sollte, selbst wenn sie ihm gerade zwischen den Fingern zerbröselte. Raisa war keine Ärztin, aber sie verstand sehr wohl, dass Elenas Krankheit nicht weniger bedrohlich war als körperliche Beschwerden. Sie starb. Es war idiotisch zu glauben, dass das Problem sich von allein erledigen würde.
Die Frau am Empfangsschalter schaute hoch, sie erkannte die beiden von früheren Besuchen wieder.
»Ich möchte zu Doktor Stawski.«
Hinter Leos Rücken hatte sie endlich durch Gespräche mit Freunden und Kollegen einen Termin bei Doktor Stawski bekommen. Stawski war zwar auch Experte in der Behandlung von Dissidenten - mit allem, was dies mit sich brachte -, doch er glaubte auch an einen Wert der Psychiatrie über ihre politische Verwendung hinaus und missbilligte die Exzesse bei Zwangstherapien. Er war von dem Wunsch beseelt zu heilen. Und er hatte sich bereiterklärt, Elena zu untersuchen, ohne einen Bericht zu schreiben. Raisa vertraute ihm so sehr, wie ein Schiffbrüchiger sich an eine vorbeitreibende Holzplanke klammern würde. Was blieb ihr sonst auch übrig?
In der oberen Etage wurde sie hereingebeten, und Doktor Stawski schüttelte ihr die Hand. Er hockte sich vor Elena hin. »Elena! Wie geht es dir?«
Elena gab keine Antwort.
»Weißt du noch, wie ich heiße?«
Elena gab keine Antwort.
Stawski stand auf und fragte Raisa flüsternd: »Wie war es diese Woche?«
»Wie immer. Kein Wort.«
Stawski führte Elena zur Waage. »Zieh doch mal die Schuhe aus.«
Elena reagierte nicht. Raisa bückte sich und zog ihr die Schuhe aus, dann schob sie Elena auf die Waage. Stawski schaute auf die Anzeige und notierte Elenas Gewicht. Er tippte mit dem Füller auf seinen Notizblock und fuhr damit an den Zahlen entlang, die er sich in den vergangenen Wochen aufgeschrieben hatte. Dann ging er zurück und lehnte sich an seinen Schreibtisch. Raisa trat einen Schritt vor, um Elena von der Waage zu helfen, aber Stawski bremste sie und bedeutete ihr, sie solle Elena stehen lassen. Sie warteten. Elena blieb reglos mit dem Gesicht zur Wand auf der Waage stehen. Aus zwei Minuten wurden fünf, dann zehn, aber Elena hatte sich immer noch nicht gerührt. Schließlich bedeutete Stawski Raisa, dass sie Elena jetzt von der Waage heben könne.
Raisa spürte, wie ihr die Tränen kamen. Sie band Elena die Schnürsenkel zu und stand auf, um den Arzt etwas zu fragen, aber da sah sie, dass er am Telefon war. Schließlich hängte er ein und legte seinen Notizblock auf den Schreibtisch. Raisa wusste nicht, wie oder warum, aber sie war sich auf einmal sicher, dass sie hintergangen wurde.
Noch bevor sie reagieren konnte, sagte der Arzt: »Sie haben sich an mich gewandt, damit ich Ihnen helfe. Aus meiner Sicht benötigt Elena eine professionelle Überwachung, und zwar rund um die Uhr.«
Zwei Pfleger betraten das Zimmer und schlossen die Tür, als würden sie eine Falle zuschnappen lassen. Raisa legte beschützend die Arme um Elena.
Der Arzt stand auf und kam näher. »Ich habe dafür gesorgt, dass sie in ein Krankenhaus in Kasan gebracht wird. Die Ärzte dort kenne ich sehr gut.«
Raisa schüttelte den Kopf, aus Fassungslosigkeit ebenso wie um diesen Vorschlag zurückzuweisen.
»Das liegt mittlerweile nicht mehr bei Ihnen, Raisa. Die Entscheidung wurde im Interesse dieses kleinen Mädchens getroffen. Sie sind nicht die Mutter. Der Staat hat Sie als Betreuerin eingesetzt. Nun entzieht Ihnen der Staat die Betreuung wieder.«
»Doktor ...« Voller Verachtung spuckte sie das Wort aus, dann fuhr sie fort: »Sie werden sie mir nicht
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