Kolyma
Stück als wertvolles Familienerbstück ausgeben sollte. Darüber konnte man sich auch später noch Gedanken machen.
»Willst du mit uns essen?«, fragte Inessa ihn.
Leo fühlte sich hier zwar wohl, aber er schüttelte den Kopf. »Ich muss nach Hause.«
* * *
Als er dort ankam, stellte er fest, dass Raisa und Elena nicht da waren. Die diensthabenden Sicherheitsbeamten berichteten, die beiden seien am Morgen zur Schule aufgebrochen, etwas Ungewöhnliches sei ihnen nicht aufgefallen. Von irgendwelchen Plänen wusste Leo nichts, und er konnte sich keinen Reim darauf machen, warum Raisa noch so spät am Abend mit Elena unterwegs war. Kleider hatten sie keine gepackt, es fehlten auch keine Taschen. Leo rief seine Eltern an, aber die konnten ihm ebenfalls nichts sagen.
Angst, dass Frajera etwas damit zu tun haben könnte, hatte Leo nicht. Der Mord an Soja war ihr letzter Racheakt gegen jemanden von der Staatssicherheit gewesen. Seit fünf Monaten war sie von der Bildfläche verschwunden, und Leo bezweifelte, dass sie noch einmal auftauchen würde. Wozu auch? Sie hatte Leo ins Mark getroffen, genau wie sie es sich vorgenommen hatte.
Als er draußen jemanden kommen hörte, eilte er in den Flur und riss die Tür auf. Schwankend kam Raisa herein und hielt sich dabei am Türrahmen fest, als sei sie betrunken. Leo stützte sie. Schnell warf er einen Blick hinaus in den Hausflur. Er war leer.
»Wo ist Elena?«
»Sie ist... weg.«
Raisa verdrehte die Augen, und im nächsten Moment sackte ihr der Kopf weg. Leo trug sie ins Bad, stellte sie unter die Dusche und ließ kaltes Wasser laufen. »Warum bist du betrunken?«
Raisa keuchte, der Schock der kalten Dusche hatte sie wach gerüttelt. »Bin nicht betrunken ... betäubt worden.«
Leo drehte die Dusche ab und strich Raisa die Haare aus den Augen, dann setzte er sie auf den Rand der Badewanne. Raisa verdrehte nun nicht mehr die blutunterlaufenen Augen, sondern starrte auf die Pfützen, die sich um ihre Schuhe sammelten. Sie lallte auch nicht mehr. »Ich wusste, du würdest dagegen sein.«
»Hast du sie etwa zu einem Arzt gebracht?«
»Leo, wenn jemand, den man liebt, krank ist, dann sucht man nach jemandem, der einem hilft. Er sagte, es sei alles ganz inoffiziell, nichts Schriftliches.«
»Wo?«
»Serbski.«
Der Name traf Leo wie ein Keulenschlag. Serbski! Viele Männer und Frauen, die er verhaftet hatte, waren dorthin zur Behandlung geschickt worden.
Raisa fing an zu weinen. »Leo ... er hat sie weggeschafft.«
Zuerst verstand Leo nicht, doch im nächsten Moment verwandelte sich seine dumpfe Benommenheit in Weißglut. »Wie heißt der Arzt?«
Raisa schüttelte den Kopf. »Du kannst sie nicht retten, Leo.«
»Wie heißt er?«
»Du kannst sie nicht retten!«
Leo hob die Hand, holte aus und wollte Raisa schon ins Gesicht schlagen. Im letzten Moment lenkte er seinen Zorn um, riss den Spiegel von der Wand und zerschlug ihn auf dem Waschbecken. Die Splitter schnitten ihm ins Fleisch, er blutete, rote Rinnsale rannen über seine Handgelenke und Arme. Dann sackte Leo inmitten der blutigen Spiegelscherben zu Boden.
Raisa nahm ein Handtuch und drückte es ihm gegen die verletzte Hand. »Glaubst du vielleicht, ich hätte mich nicht gewehrt? Glaubst du, ich hätte nicht versucht, sie davon abzuhalten? Sie haben mich betäubt. Als ich wieder zu mir kam, war Elena weg.«
Leo konnte nur noch an seine Niederlage denken. Jetzt war sie vollkommen. All seine Hoffnungen auf eine Familie zerstört. Er hatte es nicht geschafft, Soja zu retten, und ebenso wenig hatte er es geschafft, Elena davon zu überzeugen, dass das Leben lebenswert war. Drei Jahre Ehrlichkeit und Vertrauen zwischen ihm und Raisa waren wie weggeblasen. Er hatte sie belogen. Das Unglück, das daraus erwachsen war, würde diese Lüge auf ewig bestehen lassen. Er war nicht zornig auf Raisa, dass sie Frajeras Angebot angenommen und zugestimmt hatte, ihn zu verlassen. Raisa behauptete, das sei einzig und allein Taktik gewesen, ein verzweifelter Versuch, Soja zu retten. Sie hatte das Wohlergehen ihrer Familie in die eigenen Hände genommen. Der einzige Fehler, den sie gemacht hatte, war, damit zu lange gewartet zu haben.
Die Gaukelei der letzten drei Jahre war vorbei. Er war weder ein Vater noch ein Ehemann und ganz gewiss kein Held. Er würde zum KGB gehen. Raisa würde ihn verlassen. Was denn sonst? Zwischen ihnen beiden würde es ohnehin nichts mehr geben als das Gefühl dessen, was sie verloren hatten. Jeden
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