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Kolyma

Kolyma

Titel: Kolyma Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Rob Smith
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trotzdem mit mir. Nicht, weil ich Ihnen helfen kann, sondern einfach nur, um mit einem gleichgesinnten Freund zu sprechen.«
    Die ertappte Raisa wurde rot. »Es tut mir leid.«
    »Halb so schlimm.«
    Eilig klärte Raisa ihn auf. »Unsere Adoptivtochter Elena wurde uns weggenommen und in eine psychiatrische Klinik in Kasan eingewiesen. Sie hat sich nie vom Mord an ihrer Schwester erholt. Ich hatte mich darum gekümmert, dass sie ganz inoffiziell einem Arzt vorgestellt wird.«
    Kopfschüttelnd unterbrach Gratschew: »Es gibt nichts, was inoffiziell ist.«
    Raisa wurde ganz steif. »Der Arzt versprach, keine Krankenakte anzulegen. Ich habe ihm geglaubt. Als seine Behandlung bei ihr aber nicht anschlug ...«
    »Hat er sie einweisen lassen, um sich selbst zu schützen.«
    Raisa nickte.
    Gratschew dachte nach, dann ergänzte er, als sei ihm das gerade erst eingefallen: »Ich fürchte, keiner von uns wird sich je wieder von dem Mord an Soja erholen.«
    Die Bemerkung überraschte Leo. Was sollte das heißen? »Keiner von uns? Ich verstehe nicht.«
    »Verzeihen Sie. Es war nicht recht, dass ich die weitreichenden Konsequenzen mit der Trauer vergleiche, die Sie selbst empfinden müssen.«
    »Was für weitreichende Konsequenzen?«
    »Darüber müssen wir heute wirklich nicht sprechen. Sie sind doch gekommen, um Elena zu helfen ...«
    Leo unterbrach ihn.
    »Nein. Sagen Sie mir: welche weitreichenden Konsequenzen?« Der Generalmajor hockte sich auf einen Karton. Er sah erst Raisa an, dann Leo. »Sojas Tod hat alles verändert.« Leo starrte ihn verständnislos an.
    Gratschew fuhr fort. »Ein junges Mädchen wird ermordet, um dadurch einen ehemaligen Staatssicherheitsoffizier zu bestrafen. Fünfzehn weitere frühere Beamte werden verfolgt und umgebracht, mehrere gefoltert. Diese Vorgänge haben selbst die Regierung entsetzt. Dabei hatten sie diese wory-Frau doch aus dem Gulag entlassen. Wie hieß sie noch gleich?«
    Wie aus einem Mund antworteten Leo und Raisa: »Frajera.«
    »Und wer wurde sonst nicht noch alles freigelassen! Hunderttausende Sträflinge kommen wieder nach Hause. Wie sollen wir regieren, wenn nur ein Bruchteil von denen sich wie diese Frau aufführt? Wird ihre Rache eine Kettenreaktion in Gang setzen, die Recht und Ordnung zusammenbrechen lässt? Dann hätten wir wieder Bürgerkrieg. Unser Land würde mitten entzweigerissen. Dies ist die neue Angst. Deshalb hat man Schritte unternommen, damit das nicht geschieht.«
    »Was für Schritte?«
    »In unsere Gesellschaft hat sich eine gewisse Laxheit eingeschlichen. Wussten Sie, dass es neuerdings Autoren gibt, die satirische Prosa schreiben? Dudinzew zum Beispiel hat einen Roman verfasst, Nicht vom Brot allein, in dem er sich ganz offen über den Staat und die Staatsbeamten lustig macht, schwarz auf weiß. Was kommt als Nächstes? Wir erlauben den Menschen, Kritik zu üben. Wir erlauben den Menschen, sich gegen unsere Herrschaft aufzulehnen. Wir erlauben ihnen, Rache zu üben. Und plötzlich ist die Autorität, die früher so stark war, ganz zerbrechlich.«
    »Hat es sonst im Land ähnliche Racheakte gegeben?«
    »Als ich von den weitreichenden Konsequenzen sprach, meinte ich damit nicht nur die Vorfälle in unserem eigenen Land. In sämtlichen Territorien unter unserem Einfluss herrscht Aufruhr. Schauen Sie sich nur an, was in Polen passiert ist. Die Aufstände dort wurden durch Chruschtschows Rede nur noch befeuert. In ganz Osteuropa wabert eine antisowjetische Stimmung: in Ungarn, in der Tschechoslowakei, in Jugoslawien ...«
    Leo war entsetzt. »Die Rede ist nach außen getragen worden?«
    »Sogar die Amerikaner haben sie. Sie haben sie in ihren Zeitungen abgedruckt. Sie ist zu einer Waffe gegen uns geworden. Die Leute erkennen, dass wir uns selbst entsetzlich geschadet haben. Wie sollen wir die Weltrevolution vorantreiben, wenn wir derart mörderische Akte gegen unser eigenes Volk zugeben? Wer wollte sich dann noch unserer Sache anschließen? Wer wollte dann noch unser Genosse sein?«
    Er unterbrach sich und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Leo und Raisa hockten mittlerweile vor ihm wie Kinder, die von einer Geschichte gefesselt sind.
    Gratschew fuhr fort. »Nach Sojas Tod wurden alle, die für Reformen plädiert hatten, mich eingeschlossen, zum Schweigen gebracht. Selbst Chruschtschow war gezwungen, viel von der Kritik, die er in seiner Rede geäußert hatte, zurückzunehmen. «
    »Das habe ich nicht gewusst.«
    »Sie haben damals ja auch getrauert, Leo.

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