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Kolyma

Kolyma

Titel: Kolyma Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Rob Smith
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Tag würde er wissen, dass Frajera recht gehabt hatte, was ihn betraf. Er war ein Mann des Staates. Er hatte sich zwar geändert, doch wesentlich mehr zählte, dass er sich wieder zurückverwandelt hatte.
    »Eine Zeit lang habe ich wirklich geglaubt, dass wir eine Chance hätten«, sagte er.
    »Ich auch.«

    Am selben Tag

    Leo wusste nicht, wie viel Zeit verstrichen war. Reglos hatten Raisa und er nebeneinander auf dem Fußboden gehockt, an die Dusche gelehnt, in die es hinter ihnen aus dem Hahn tropfte. Irgendwann hörte er, wie die Tür geöffnet wurde, aber immer noch schaffte er es nicht aufzustehen. Stepan und Anna erschienen in der Badezimmertür. Zweifellos hatten sie sich wegen Leos Anruf früher am Tag Sorgen gemacht und waren deshalb hergekommen.
    Mit einem Blick erfassten sie den Raum, das Blut und den zerbrochenen Spiegel. »Was ist passiert?«
    Raisa drückte Leos Hand.
    »Sie haben uns Elena weggenommen«, sagte er.
    Weder Stepan noch Anna sagten etwas. Stepan half Raisa hoch, wickelte ein Handtuch um sie und führte sie in die Küche. Anna brachte Leo ins Schlafzimmer und untersuchte den Schnitt. Sie verband die Wunde und kümmerte sich genauso um ihn wie früher, wenn er sich als kleiner Junge wehgetan hatte. Als sie fertig war, setzte sie sich neben Leo.
    Er küsste ihre Wange, stand auf und ging in die Küche. Dort reichte er Raisa die Hand. »Ich brauche deine Hilfe.«

    * * *

    Leos einflussreichster Verbündeter war Frol Panin, doch der befand sich außerhalb der Stadt und war somit nicht verfügbar. Mit Generalmajor Gratschew war Leo zwar nicht befreundet, aber drei Jahre zuvor hatte dieser Leos Vorschlag unterstützt, ein autonomes Morddezernat aufzubauen. In den ersten beiden Jahren war der Major auch Leos direkter Vorgesetzter gewesen, dann hatte er sich zurückgezogen und Panin Platz gemacht.
    Seitdem hatten sie sich nur noch unregelmäßig gesehen. Doch Gratschew war ein Befürworter des Wandels und vertrat die Auffassung, dass man nur regieren konnte, wenn man auch Abbitte leistete. Man musste, freilich mit Augenmaß, das vom Staat begangene Unrecht zugeben und versuchen, es wiedergutzumachen.
    In Raisas Begleitung klopfte Leo jetzt an Gratschews Wohnungstür und warf dabei instinktiv einen prüfenden Blick den Flur hinunter. Es war schon spät, aber bis zum Morgen konnten sie nicht warten, aus Angst, dass die erdrückende Mutlosigkeit sie wieder überfallen würde, sobald sie in ihren Bemühungen nachließen. Die Tür wurde geöffnet. Für Leo, der den Generalmajor noch nie anders als in Uniform gesehen hatte, war es ein Schock, ihn jetzt in ungepflegten Klamotten vor sich zu sehen, die Brille voller Fingerabdrücke. Früher hatte er sich stets förmlich und reserviert gegeben, doch jetzt umarmte er Leo so überschwänglich, als habe er einen verlorenen Bruder wiedergefunden. Vor Raisa vollführte er eine freundliche Verbeugung. »Aber kommen Sie doch bitte herein!«
    Drinnen standen lauter Kartons auf dem Boden, offenbar wurde gepackt.
    »Ziehen Sie um?«, fragte Leo.
    Gratschew schüttelte den Kopf. »Nein, ich werde sozusagen umgezogen. Raus aus der Stadt und weit weg. Ich könnte Ihnen noch nicht einmal sagen, wohin, ganz ehrlich nicht. Sie haben es mir zwar gesagt, aber von dem Ort hatte ich noch nie etwas gehört. Liegt irgendwo im Norden, glaube ich, weit im Norden, wo es kalt und dunkel ist, damit die Botschaft auch ja ankommt.«
    Die Sätze sprudelten nur so aus ihm heraus. Leo versuchte, ihn zum Kern des Themas zurückzubringen. »Was für eine Botschaft?«
    »Dass ich keine Gunst mehr genieße, dass man mich nicht mehr für den Richtigen hält, egal für welche Aufgabe, außer für einen kleinen Posten in einer kleinen Stadt. Sie kennen diese Strafe doch beide, nicht wahr? Sie haben sie am eigenen Leib erfahren.«
    »Wo ist Ihre Frau?«, fragte Raisa.
    »Die hat mich verlassen.«
    Und um irgendwelchen Beileidsbekundungen vorzubeugen, fügte er hinzu: »Im gegenseitigen Einvernehmen. Wir haben einen Sohn. Er ist ehrgeizig. Meine Umsiedelung würde all seine Chancen zunichtemachen. Da muss man praktisch denken.«
    Gratschew steckte die Hände in die Hosentaschen. »Wenn Sie zu mir gekommen sind, damit ich Ihnen helfe, muss ich Ihnen leider sagen, dass meine Situation sich erheblich verschlechtert hat.«
    Raisa warf Leo einen kurzen Blick zu. In diesem Blick stand die Frage, ob es sich überhaupt lohnte, diesem Mann ihre Not zu schildern.
    Gratschew entging das nicht. »Reden Sie

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