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Kolyma

Kolyma

Titel: Kolyma Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Rob Smith
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Um Ihre Tochter. Um Ihren Freund. Die Welt um Sie herum haben Sie gar nicht mehr wahrgenommen. Während Sie Ihre Toten beweinten, wurde eine bereinigte Version der Rede verfasst.«
    »Was genau heißt >bereinigt    »Die Eingeständnisse von Exekutionen durch Standgerichte und von Folter wurden gestrichen. Der neue Text wurde einen Monat nach dem Mord an Soja veröffentlicht. Ich will nicht sagen, dass dafür einzig und allein Frajeras Rachefeldzug verantwortlich war, aber ihre Mordtaten trugen doch wesentlich dazu bei. Sie lieferten den Traditionalisten ein überaus anschauliches Beispiel. Chruschtschow hatte keine Wahl. Nach einem Beschluss des Zentralkomitees wurde seine Rede umgeschrieben. Stalin war jetzt kein Mörder mehr, sondern hatte nur noch Fehler gemacht. Dem System selbst war nichts vorzuwerfen. All die geringfügigen Fehler gingen allein zu Stalins Lasten. Es war eine Geheime Rede ohne Geheimnisse.«
    Leo dachte über das nach, was er gerade gehört hatte. Dann fragte er: »Und weil mein Dezernat nicht in der Lage war, diese Morde zu unterbinden, hat man es geschlossen.«
    »Nein. Das war nur ein Vorwand. Sie waren immer gegen das Morddezernat und nehmen es mir übel, dass ich an seiner Einrichtung beteiligt war. Ihr Dezernat war Teil dieser heimlich um sich greifenden Kultur der Nachgiebigkeit. Wir haben zu schnell gehandelt, Leo. Freiheiten erringt man nur langsam, Stück für Stück. Man muss sie sich erkämpfen. Die Kräfte, die für den Wandel eintraten, also auch ich, sind zu schnell und zu weit vorgeprescht. Wir waren arrogant und haben uns übernommen. Wir haben diejenigen unterschätzt, die die Macht in ihrer alten Form beschützen und bewahren wollten.«
    »Man hat mir befohlen, wieder für den KGB zu arbeiten.«
    »Das wäre ein mächtiger Fingerzeig. Der abtrünnige MGB-Agent fügt sich wieder in die traditionellen Strukturen ein. Sie werden benutzt. Und Sie müssen sich auch benutzen lassen. Ich wäre an Ihrer Stelle sehr vorsichtig, Leo. Glauben Sie ja nicht, dass diese Leute sich besser benehmen werden als Stalin. Sein Geist lebt weiter, nicht in einer einzelnen Person, sondern verteilt auf viele Menschen. Er ist schwerer auszumachen, aber verlassen Sie sich darauf: Er ist überall.

    * * *

    Vor der Wohnung nahm Leo Raisas Hand. »Ich muss blind gewesen sein.«

Blischnja Datscha
    Kunzewo, zwanzig Kilometer westlich von Moskau

    21. Oktober

    Es war Frol Panins zweiter Besuch in der Blischnja Datscha, einem von Stalins früheren Wohnsitzen, der mittlerweile von den Familien der Elite zur Erholung genutzt werden durfte. Man hatte beschlossen, diese Residenz nicht zu schließen oder in ein Museum umzuwandeln. Die Datscha sollte stattdessen von spielenden Kindern und Küchenpersonal bevölkert sein, während die herrschende Elite sich in den knarzenden Ledersesseln räkelte und mit klirrenden Eiswürfeln gekühlte Getränke schlürfte. Nach Stalins Tod hatte man entdeckt, dass die Getränkeanrichte lauter Flaschen enthielt, die mit vermeintlichem Alkohol gefüllt waren, tatsächlich aber statt Scotch dünnen Tee und statt Wodka Wasser enthielten. So blieb Stalin immer nüchtern, während seine Minister die Kontrolle über ihre Zunge verloren. Mittlerweile hatte man die Brühe weggegossen, sie wurde nicht mehr gebraucht. Die Zeiten hatten sich geändert.
    Nachdem Frol von dem Fünf-Gänge-Menü nur sparsam gegessen, an drei verschiedenen Sorten blutigen Fleisches herumgepickt und drei Sorten Wein ignoriert hatte, waren seine gesellschaftlichen Pflichten für den heutigen Abend beendet. Er stieg die Treppe hinauf und lauschte auf den heftigen Regen. Beim Betreten seiner Suite zog er sich das Hemd aus der Hose. Seine kleinen Söhne waren im Zimmer nebenan, ein Hausmädchen hatte sie ins Bett gebracht. Seine Frau zog sich gerade aus. Wie es von den Ehefrauen erwartet wurde, hatte sie sich schon vor dem Ende des Diners entschuldigt, damit die Männer noch über gewichtige Themen reden konnten - eine Qual, da die meisten betrunken waren und ihnen nichts einfiel.
    Erleichtert betrat Panin das Wohnzimmer und schloss die Tür. Der Abend war vorbei. Er verabscheute es hierherzukommen, besonders mit den Kindern. Für ihn war die Datscha nur ein Ort, an dem Menschen ihr Leben gelassen hatten. Ganz gleich, wie viele Kinder auf dem Gelände spielten und wie laut sie alle lachten - die Geister ließen sich nicht vertreiben.
    Frol schaltete das Wohnzimmerlicht aus und begab sich ins Schlafzimmer, dabei

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