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Kolyma

Kolyma

Titel: Kolyma Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Rob Smith
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waren, würden sie ihm überhaupt nicht vertrauen. Seine Anweisungen waren einfach. Er sollte Leos und Raisas Ankunft in der Hauptstadt so lange hinauszögern, bis der Aufstand begonnen hatte. Sobald Frajera ihren Zweck erfüllt hatte, durfte Leo, ein Mann, der für seine Hartnäckigkeit und Willensstärke bekannt war und sich außerdem auf das Handwerk des Tötens verstand, seine Rache haben.

Osteuropa, Sowjetzone
    Ungarn, Budapest

    Am selben Tag

    Aufgeregt umklammerte Soja Malyschs Hand. Sie wollte ihn nicht verlieren unter diesen Tausenden von Leuten, die aus allen Straßen auf den Parlamentsplatz strömten. Nachdem sie so viele Jahre in den Gedanken ans Sterben verliebt gewesen war, der vermeintlich einzigen Lösung für ihre Einsamkeit, wäre sie jetzt am liebsten auf und ab gehüpft und hätte »Ich lebe!« geschrien, so als habe die Welt eine Entschuldigung verdient.
    Der Protestmarsch hatte alle Erwartungen übertroffen. Jetzt waren es nicht mehr nur die Studenten und Dissidenten, es schien beinahe so, als würde sich die gesamte Stadt auf dem Platz versammeln, herausgelockt aus ihren Wohnungen, Büros oder Fabriken und unfähig, sich dieser einzigartigen Anziehungskraft zu entziehen, die mit jedem Neuankömmling größer wurde. Soja verstand die Bedeutung dieses Ortes durchaus. Eigentlich sollte ein Parlament ja das Zentrum der Macht sein, der Ort, wo das Schicksal der ganzen Nation entschieden wurde. Das Gebäude da vorn war aber in Wirklichkeit vollkommen unbedeutend, nichts als eine verschnörkelte, majestätische Fassade vor dem sowjetischen Machtanspruch. Dass es so schön war, machte die Erniedrigung irgendwie sogar noch schlimmer.
    Die Sonne war schon untergegangen, aber die späte Stunde tat der allgemeinen Erregung nicht den geringsten Abbruch. Immer mehr Menschen trafen ein, ohne sich um die alten Tugenden von Besonnenheit und Vorsicht zu kümmern. Obwohl der Platz längst voll war, hörte der Zustrom nicht auf, und die Neuankömmlinge drängten die Menge noch dichter zusammen.
    Dennoch hatte die Atmosphäre überhaupt nichts Klaustrophobisches an sich, alles lief vollkommen friedlich ab. Fremde sprachen miteinander, lachten oder umarmten sich. Soja hatte noch nie einen solchen Massenauflauf erlebt. In Moskau hatte man sie zwar genötigt, an den Feierlichkeiten zum i. Mai teilzunehmen, aber das hier war etwas ganz anderes. Dabei kam es gar nicht auf die Anzahl der Menschen an, es war dieses Durcheinander, das Fehlen jeglicher Autorität. An den Seiten standen keine Polizisten. Keine Panzer rollten in Formation vorbei. Es gab keine Soldaten, die zackig an den Reihen sorgfältig ausgewählter, Fähnchen schwenkender Kinder vorbeimarschierten. Es war ein furchtloser Protest, ein Akt des Ungehorsams. Jeder konnte machen, was er wollte, jeder konnte singen, in die Hände klatschen und Parolen skandieren.

    Russkik bazal Russkik bazal Russkik bazal

    Hunderte von Füßen stampften im Rhythmus dieser vier Schläge, und Soja machte mit, ballte die Hände zu Fäusten und reckte sie in die Luft, mitgerissen von einer Empörung, die angesichts ihrer eigenen Staatsangehörigkeit eigentlich vollkommen absurd war.

    Russen, haut ab!

    Dass sie selbst Russin war, juckte sie nicht. Hier war ihr Zuhause, bei diesen Leuten, die genauso gelitten hatten wie sie selbst und sich wie sie selbst damit auskannten, was Unterdrückung war.
    Da sie nicht so groß war wie die anderen Frauen um sie herum, stellte sie sich auf die Zehenspitzen. Plötzlich packte sie jemand mit beiden Händen an den Hüften. Frajera hob sie hoch und setzte sie sich auf die Schultern, damit sie einen Ausblick über den gesamten Platz hatte. Die Menge war noch viel gewaltiger, als sie vermutet hatte, sie erstreckte sich bis hin zum Parlamentsgebäude und dem dahinterliegenden Fluss. Überall standen die Menschen, auf den Straßen, Grasflächen, Tram-Gleisen, viele waren sogar auf Säulen und Statuen geklettert.
    Plötzlich wurden die Lichter im Parlament ausgeschaltet und der Platz in Finsternis getaucht. In der Menge entstand Unruhe. In den Seitenstraßen gab es doch noch Licht! Das musste ein bewusst gegen sie gerichteter Akt sein, mit der Dunkelheit sollten sie vertrieben und ihre Entschlossenheit gebrochen werden. Da plötzlich ein Hurrageschrei. Soja sah eine brennende Fackel aus einer zusammengerollten Zeitung. Rasch tauchten weitere kleine Feuer auf, alle aus improvisierten Fackeln. Dann würden sie sich eben ihr eigenes Licht machen!

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