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Kolyma

Kolyma

Titel: Kolyma Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Rob Smith
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Frajera reichte Soja eine Zeitung hoch, ein Exemplar von Freies Volk. Ein Mann zündete sie am Ende an und drehte sie dann langsam, bis die Flamme größer geworden war. Dann hielt Soja sie sich über den Kopf, die Tinte färbte die Flammen blaugrün. Sie wedelte die Zeitung hin und her, und tausend brennende Fackeln winkten zurück.
    Als Frajera Soja wieder herunterließ, beugte die sich begeistert zu ihr vor und küsste sie auf die Wange. Frajera erstarrte. Soja stand zwar, trotzdem umklammerte Frajera ihre Taille und ließ sie nicht wieder los. Soja hielt die Luft an und wartete. Vielleicht hatte sie gerade einen schrecklichen Fehler begangen. In der Dunkelheit konnte sie Frajeras Reaktion zunächst nicht erkennen, bis jemand in der Nähe eine Zeitung anzündete. Im flackernden Licht tauchte Frajeras Gesicht auf. Sie sah aus, als habe sie ein Gespenst gesehen.

    * * *

    Frajera spürte den Kuss auf ihrer Wange, als würde er brennen. Sie stieß Soja weg und fasste an die Stelle, wo sie geküsst worden war. Dass sie sich Soja auf die Schultern gesetzt hatte, war ein Fehler gewesen. Unwillkürlich hatte sie damit zugelassen, dass Anisja wieder zum Vorschein kam, ihr früheres Ich, die Ehefrau und Mutter. Die Sanftheit und Zuneigung, die sie sich ausgetrieben hatte, hatten sich heimlich wieder angeschlichen. Frajera zog ihr Messer, hob es an ihre Wange und rasierte sich die Reste des Kusses von der Wange. Schon besser. Sie wischte die Klinge ab und steckte das Messer wieder weg.
    Als sie sich wieder gefangen hatte, starrte Frajera wütend auf die Dächer der umliegenden Häuser. Wieso hatte Panin keine Scharfschützen geschickt? Zsolt Polgar folgte ihrem Blick.
    »Was siehst du da oben?«, fragte er.
    »Wo bleibt der AVH?«
    »Machst du dir etwa Sorgen, dass uns was passieren könnte?«
    Frajera zeigte ihm nicht, wie lächerlich naiv sie ihn fand. Stattdessen sagte sie: »Da will man kämpfen und weiß nicht, gegen wen.«
    »Die Studenten versuchen gerade, die sechzehn Punkte im Radio zu verlesen. Aber wie man hört, weigert die Sendeleitung sich. Bestimmt bewacht der AVH das Gebäude, damit es auch ja unter sowjetischer Kontrolle bleibt.«
    Frajera packte ihn bei den Schultern. »Das ist es! Da werden wir kämpfen!«
    Frajera drängte sich durch die Menge, bis sie die friedliche Versammlung hinter sich gelassen hatte, deren Passivität ihr schier den Atem raubte.
    In einiger Entfernung vom Parlamentsplatz allerdings herrschte schon eine andere Stimmung. Vom Muzeum Korut bis zum Nemzeti Muzeum rannten Leute wie aufgescheucht hin und her, einige verängstigt, andere wütend, manche hatten Steinplatten oder herausgerissene Pflastersteine in der Hand. Sie alle wollten zum Radiosender, der an der Brody Sandor ut lag, einer schmalen Gasse neben dem Museum. Mochte das Ganze auch als friedlicher Protest begonnen haben, hier hatte er sich bereits in einen gewaltbereiten Mob verwandelt: Die Fenster des Sendehauses waren eingeschlagen, die Straße übersät mit Glasscherben, die unter den Sohlen knirschten wie zugefrorene Pfützen. Mitten auf der Straße lag ein umgestürzter Kleinbus. Die Räder drehten sich noch, die Motorhaube war eingedellt. Die Türen des Radiosenders waren verschlossen und verriegelt.
    Zsolt erkundigte sich bei den herumstehenden Männern und Frauen und kehrte dann zu Frajera zurück. Er wechselte vom Ungarischen ins Russische und raunte ihr zu: »Die Studenten haben verlangt, dass man die sechzehn Punkte verliest. Die Frau, die den Sender leitet...«
    Frajera unterbrach ihn. »Was für eine Frau?«
    »Sie heißt Benke und ist eine loyale Kommunistin, aber anscheinend auch nicht besonders schlau. Jedenfalls hat sie einen Kompromiss vorgeschlagen. In den Sender hat sie die Leute zwar nicht gelassen, aber sie hat ihnen einen Übertragungswagen zur Verfügung gestellt. Der ist auch tatsächlich gekommen, und die Studenten haben ihre Punkte verlesen.«
    Frajera hatte schon verstanden: »Aber es war ein Trick.«
    »Der Wagen hat gar nichts übertragen. Stattdessen haben sie im Radio den öffentlichen Aufruhr angeprangert und den Leuten befohlen, nach Hause zu gehen. Daraufhin haben die Studenten mit dem Übertragungswagen versucht, die Türen zu rammen, und ihn dann umgekippt. Jetzt wollen sie den Sender unbedingt stürmen. Sie sagen, er gehört dem Volk und nicht den Sowjets.«
    Frajera blickte sich um und versuchte abzuschätzen, wie stark der Mob war. »Und wo ist der AVH?«
    »Drinnen.«
    Frajera spähte

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