Kolyma
hinauf. An den Fenstern im obersten Stock tauchten Gestalten auf - Polizisten. Dann hörte man ein Zischen, und im nächsten Moment breitete sich in der engen Gasse eine Rauchwolke aus. Wie ein befreiter Flaschengeist schlängelte sich aus den Stahlkanistern Tränengas, wuchs an und erhob sich. Frajera zog ihre Leute zurück und achtete dabei besonders auf Soja und Malysch. Sie kletterten über das Geländer und rannten in Richtung Museum, während das Gas sie verfolgte und sich über den Rasen verteilte wie morgendlicher Nebel. Erst als sie oben auf der Museumstreppe angekommen waren, drehten sie sich um. Weiße Schwaden waberten um ihre Beine, doch da unten konnten sie ihnen nichts anhaben. Das meiste Tränengas war in die Gasse getrieben worden, von wo es nun auf die Hauptstraße hinauswehte. Aus dem chemischen Nebel kamen Männer und Frauen herausgewankt und gingen würgend in die Knie.
Kaum hatte sich das Gas verflüchtigt, trat Frajera näher heran und nahm die leere Gasse in Augenschein. Es herrschte eine unheimliche Stille. Der Mob war versprengt, der Kampf im Keim erstickt worden. Unwillig schüttelte Frajera den Kopf. Wenn der heutige Abend ohne nennenswerten Zwischenfall zu Ende ging, würde die Regierung die Initiative übernehmen und die Lage wieder unter Kontrolle bekommen.
Frajera lief zurück zum Sender. »Mir nach!«
Das Tränengas hatte sich zwar noch nicht vollständig verzogen, doch Frajera wollte nicht länger abwarten. Sie kletterte über das Geländer und trat mitten auf die Straße. Gasschleier waberten um sie herum. Obwohl sie sich Mund und Nase mit der Hand zuhielt, musste sie sofort husten. Dennoch stolperte sie, ungeachtet der Tränen, die ihr aus den Augen schossen, weiter auf den Eingang des Senders zu.
Soja packte Malyschs Arm. »Wir müssen ihr nach.«
Malysch riss sein Hemd entzwei und machte aus den Fetzen für Soja und sich selbst Masken. Dann kletterten sie über das Geländer, traten auf die Straße und stellten sich neben Frajera. Das Gas stieg auf und schlängelte sich durch die zerbrochenen Fenster in den Sender hinein. Nicht nur fiel auf der Straße das Atmen nun leichter, auch wurden oben die Gestalten von den Fenstern vertrieben. Allmählich kehrte der Mob zurück und versammelte sich um Soja, Malysch und Frajera. Die wory kamen mit Brecheisen, machten sich damit an den Türen zu schaffen, um sie aufzubrechen.
Soja schaute hinauf. An den Fenstern standen wieder die avh -Agenten, plötzlich waren sie mit Gewehren bewaffnet. Soja packte Malysch am Ärmel und riss ihn mit nach vorn. Kaum hatten sie sich ganz dicht an die Mauer gepresst, als auch schon eine Salve von Schüssen aufpeitschte. Alle in der Straße duckten sich und schauten sich geduckt um, wer getroffen war. Doch niemand war verletzt. Die Schüsse waren über ihre Köpfe hinweg abgefeuert worden und in die Häuserwand gegenüber eingeschlagen. Der Beschuss hatte sie nur vorläufig in Schach halten sollen, denn schon im nächsten Moment flogen die Türen des Senders auf.
Entschlossen wie eine römische Phalanx und mit entsicherten Gewehren stürmten die avh -Beamten heraus, um den Sender zu schützen. In zwei Reihen stellten sich die Polizisten Rücken an Rücken auf, eine marschierte die Gasse hinauf, die andere hinab. Sie trennten die Menge in zwei Gruppen. Mit aufgepflanzten Bajonetten rückten sie vor. Durch bedrohlich nahe Bajonettstöße wurden Malysch und Soja in Richtung Museum zurückgetrieben. Soja erhaschte einen Blick auf das Mädchen neben ihr. Sie war etwa achtzehn Jahre alt und schien nicht die geringste Angst zu haben. Siegesgewiss grinste sie Soja an und hakte sich bei ihr unter. Hier hieß es zusammenzustehen! Gemeinsam schrien sie die Polizisten an und belegten sie mit Flüchen. Angefeuert von der Tollkühnheit des Mädchens bückte Soja sich, hob einen etwa handtellergroßen Stein auf, warf ihn und traf einen der Polizisten ins Gesicht. Begeistert lachte sie auf, doch da richtete er sein Gewehr auf sie.
Soja sah etwas aufblitzen, dann gaben ihre Beine nach, und sie schlug hin. Atemlos und unsicher, ob sie getroffen war, rollte sie sich zur Seite und starrte geradewegs in die Augen des Mädchens, das sich bei ihr untergehakt hatte. Die Kugel hatte sie in den Hals getroffen.
Die Polizisten marschierten weiter vor. Soja war wie erstarrt, sie konnte sich nicht abwenden. Sie musste aufstehen, sonst würden die Polizisten sie niedertrampeln. Töten! Aber sie konnte doch das Mädchen nicht
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