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Kolyma

Kolyma

Titel: Kolyma Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Rob Smith
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Soja. »Warum denkst du dir nicht eine Geschichte aus? Das würde uns gefallen, nicht wahr, Elena?«
    Als Elena in Moskau angekommen war, war sie noch sehr jung gewesen, erst vier Jahre alt. Jung genug also, um sich an die Veränderungen in ihrem Leben zu gewöhnen. Im Gegensatz zu ihrer Schwester hatte sie Freundinnen gefunden und lernte in der Schule fleißig. Da sie für Schmeicheleien empfänglich war, strebte sie nach dem Lob ihrer Lehrer und wollte es allen recht machen, auch ihren neuen Pflegeeltern.
    Elena wurde unruhig. Am Ton in der Stimme ihrer Schwester erkannte sie, dass Soja ihre Zustimmung erwartete. Verlegen, weil sie sich jetzt auf eine Seite schlagen sollte, nickte sie nur. Leo spürte die Gefahr und antwortete: »Es gibt noch so viele Geschichten, die wir nicht gelesen haben. Ich finde sicher eine, die uns gefällt.«
    Soja gab nicht nach. »Die sind doch alle gleich. Erzähl uns mal was Neues. Denk dir was aus.«
    »Ich fürchte, darin bin ich nicht so gut.«
    »Du willst es nicht mal versuchen? Mein Vater hat sich alle möglichen Geschichten ausgedacht. Lass sie auf einem entlegenen Bauernhof spielen, einem Bauernhof im Winter, alles ist tief verschneit. Der Fluss in der Nähe ist zugefroren. Und sie könnte so anfangen: Es waren einmal zwei kleine Mädchen, sie waren Schwestern ...«
    »Bitte, Soja.«
    »Die Schwestern lebten bei ihrer Mutter und ihrem Vater und waren die glücklichsten Kinder der Welt. Aber da erschien eines Tages ein Mann, der hatte eine Uniform an und war gekommen, um sie zu verhaften. Und ...«
    Leo unterbrach sie: »Soja, bitte.«
    Soja sah verstohlen zu ihrer Schwester und verstummte. Elena weinte.
    Leo stand auf. »Ihr seid beide müde. Morgen besorge ich euch ein paar bessere Bücher. Ich verspreche es.«
    Er schaltete das Licht aus und schloss die Tür. Im Flur tröstete er sich damit, dass es irgendwann einmal besser werden würde. Alles, was Soja brauchte, war ein bisschen Zeit.

    Soja lag im Bett und hörte zu, wie ihre Schwester schlief, lauschte auf das gleichmäßige, leise Atmen. Damals mit ihren Eltern auf dem Bauernhof hatten sie sich zu viert ein kleines Zimmer mit dicken Lehmwänden geteilt, das von einem Holzfeuer gewärmt wurde. Soja hatte neben ihrer Schwester unter groben, handgesteppten Decken geschlafen. Das Geräusch, wenn ihre Schwester schlief, bedeutete Sicherheit. Es bedeutete, dass ihre Eltern auch da waren. Hier gehörte es nicht hin, hier in diese Wohnung, wo Leo gleich nebenan war.
    Soja konnte nie gut einschlafen. Stundenlang lag sie im Bett und wälzte Gedanken, bevor endlich die Erschöpfung sie überkam. Sie war die Einzige, der die Wahrheit heilig war, die Einzige, die sich weigerte zu vergessen. Leise glitt sie aus dem Bett. Abgesehen vom Atmen ihrer Schwester war es still in der Wohnung. Soja kroch zur Tür, ihre Augen hatten sich schon an die Dunkelheit gewöhnt. Mit einer Hand an der Wand tastete sie sich durch den Flur. In der Küche fiel Licht von der Straße durchs Fenster. Wie ein Dieb huschte Soja hinein, öffnete eine Schublade und tastete nach dem Griff. Schwer lag das Messer in ihrer Hand.

Am selben Tag

    Soja presste die Klinge flach gegen ihr Bein und näherte sich Leos Schlafzimmer. Langsam schob sie die Tür auf, bis der Spalt groß genug war, dass sie hindurchhuschen konnte. Geräuschlos schlich sie über den Holzboden. Die Vorhänge waren zugezogen, und das Zimmer lag im Dunkeln, aber sie kannte sich aus und wusste, wie sie leise zu Leo gelangte, der am jenseitigen Ende schlief.
    Als sie direkt über ihm stand, hob Soja das Messer. Obwohl sie ihn nicht sehen konnte, stellte sie sich in Gedanken die Umrisse seines Körpers vor. In den Bauch würde sie nicht stechen, da könnte die Decke die Klinge abhalten. Sie würde in den Hals stoßen und das Messer so tief darin versenken, wie es nur ging, bevor er sie überwältigen konnte. Mit perfekter Körperbeherrschung ließ sie das Messer sinken. Durch die Klinge spürte sie erst seinen Arm, dann seine Schulter - sie lenkte das Messer weiter nach oben, ließ es dabei immer wieder vorsichtig weiter sinken, bis die Spitze seine Haut berührte. Jetzt war sie genau an der richtigen Stelle. Nur noch den Griff mit beiden Händen umklammern und fest zustoßen.
    In unregelmäßigen Abständen wiederholte Soja dieses Ritual, manchmal einmal pro Woche, manchmal auch einen ganzen Monat lang nicht. Das erste Mal war vor drei Jahren gewesen, kurz nachdem ihre Schwester und sie aus dem

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