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Kolyma

Kolyma

Titel: Kolyma Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Rob Smith
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gesamte Fassade des Hauses eingestürzt war, war der Raum nun einsehbar. Wenn sie sich nicht zu weit von ihrem Posten entfernen wollte, blieb ihr als einziges abgeschiedenes Plätzchen der Kleiderschrank. Sie schlüpfte hinein, zog die Tür hinter sich zu und hockte sich hin. Als sie sich mit dem Ärmel eines Mantels trocken tupfte, hatte sie ein schlechtes Gewissen - eigentlich verrückt, wenn man bedachte, dass sie gerade im Begriff war, einen Menschen zu erschießen. Zwar hatte sie mittlerweile schon zahlreiche Schüsse abgegeben, aber jemanden daraufhin sterben oder fallen sehen hatte sie noch nicht. Ohne Vorwarnung musste sie sich übergeben. Gerade noch rechtzeitig griff sie nach einem herumstehenden Schuh und kotzte ihn randvoll.
    Auf wackligen Beinen kletterte sie aus dem Kleiderschrank und drückte die Tür hinter sich zu. Das Gewehr lag noch auf dem Trümmerhaufen, wo sie es zurückgelassen hatte. Zitternd begab sich Soja zurück auf ihren Posten. Ein sowjetischer Soldat wankte auf die beiden Panzer zu. Soja nahm den Verletzten ins Fadenkreuz. Sein Gesicht konnte sie nicht sehen, nur seinen Rücken - und das braune Haar. Vielleicht kamen die anderen Offiziere ihm ja zur Hilfe. Frajera hatte ihr beigebracht, dass sie zuerst auf die schießen musste. Das lohnte sich. Den Verletzten konnte sie danach immer noch erledigen.
    Zehn Schritte vor dem Panzer brach der Verwundete zusammen. Soja richtete das Fadenkreuz auf die Luke und wartete ab, ob die Besatzung den Köder schlucken würde. Der Panzer setzte sich in Bewegung und manövrierte so nahe wie möglich an den Verletzten heran. Sie hatten also vor, ihn zu retten. Die Luke ging auf. Vorsichtig hob ein Soldat den stählernen Deckel hoch und spähte hinaus. Bereit, sich schnell wieder zurückzuziehen, wartete er, ob man auf ihn schießen würde. Nach einer Weile kletterte er hinaus und eilte seinem verwundeten Kameraden zur Hilfe. Soja hatte den Mann im Visier. Wenn sie jetzt nicht abdrückte, würde er den Kameraden in den Panzer zerren, und danach würden sie weiter in die Stadt vorrücken und noch mehr unschuldige Leute umbringen. Was wären ihre Skrupel dann noch wert? Schließlich war sie zum Kämpfen hier. Da drüben war der Feind. Er hatte Kinder, Mütter und Väter getötet.
    Gerade wollte sie abdrücken, da schob jemand das Gewehr herunter. Es war Malysch. Er lag neben ihr, sein Gesicht dicht an ihrem. Soja zitterte.
    Er nahm ihr das Gewehr ab und beobachtete durch das Fernrohr die Panzer.
    Soja spähte über die Trümmer hinweg. Die Panzer setzten sich wieder in Bewegung. Aber sie drangen nicht in die Stadt vor, sondern fuhren über die Brücke zurück in die entgegengesetzte Richtung.
    »Wo wollen die hin?«, fragte Soja.
    Malysch schüttelte den Kopf. »Keine Ahnung.«

    Am selben Tag

    Auf der Suche nach einer Fluchtmöglichkeit durchsuchte Leo das Zimmer. Während er sich an der Tür, dem Fenster und den Fußbodendielen zu schaffen machte, fiel ihm plötzlich auf, wie still es geworden war. Die Explosionen und Schüsse hatten aufgehört. Draußen vor der Zelle hörte er Schritte.
    Die Tür ging auf, und Frajera marschierte herein. »Hört euch das an!«
    Im Nachbarzimmer war ein Radio auf volle Lautstärke gestellt. Der Nachrichtensprecher redete Ungarisch. Leo warf Karoly einen fragenden Blick zu. Der hörte noch ein paar Sekunden zu.
    »Übersetzen Sie!«, fuhr Frajera ihn an.
    Karoly warf Leo einen flüchtigen Blick zu.
    »Ein Waffenstillstand ist ausgerufen worden. Die sowjetischen Truppen ziehen sich aus der Stadt zurück.«

    Am selben Tag

    Frajera spürte Skepsis aufkeimen und bestand deshalb auf einem Siegeszug. Also machten sie sich auf den Weg: Leo, Raisa und Karoly, umringt von Aufständischen und den Überbleibseln von Frajeras Bande. Sie selbst und Malysch nicht eingerechnet, zählte Leo nur noch vier wory. Das waren viel weniger als in Moskau. Vielleicht waren ein paar getötet worden, aber die anderen hatten sie offenbar im Stich gelassen. Das Leben eines Revolutionärs war nun einmal nichts für einen Berufsverbrecher. Frajera schien das allerdings nicht zu scheren, sie führte die Gruppe so stolz die breite Sztalin ut entlang, als marschiere sie auf Stalins Grabmal. Raisa lief neben Leo, Karoly dicht hinter ihnen, er zog sein verletztes Bein nach. Hinter den bewaffneten Männern erhaschte Leo einen Blick auf Soja, die am Rand der Gruppe marschierte, mit Malysch an ihrer Seite. Soja ignorierte Leo zwar vollkommen, doch Malysch

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