Kolyma
Soldatin mit langen Schritten und geschultertem Gewehr vornweg marschiert war - demselben Gewehr, mit dem sie kurz zuvor auf Raisas Herz gezielt hatte. Sie waren an einen Wohnblock gekommen, der von der Straße zurückgesetzt und nur über eine Gasse zu erreichen war. Man hatte Raisa ins oberste Stockwerk gebracht und in einen kleinen Raum gesperrt, der eilig ausgeräumt und zur Zelle umfunktioniert worden war.
Die Wände begannen zu zittern, draußen fuhren schwere Panzerfahrzeuge vorbei. Raisa spähte durch das kleine Fenster. Unten in der Straße gab es Scharmützel. Direkt über ihr hörte sie auf den Dachziegeln das Getrappel von Füßen, es stammte von den Heckenschützen, die in Position gingen. Kraftlos kauerte sich Raisa an die am weitesten vom Fenster entfernte Wand und hielt sich die Ohren zu. Sie musste an Soja denken. Und sie musste an den jungen Sowjetsoldaten denken, den sie erschossen hatte. Jetzt endlich ließ sie ihren Tränen freien Lauf.
Draußen vor dem Zimmer hörte sie Schritte, dann drehte sich ein Schlüssel im Schloss. Raisa stand auf. Frajera betrat den Raum. In Moskau war sie noch die Ruhe selbst gewesen und hatte alles unter Kontrolle gehabt, doch jetzt wirkte sie müde und angespannt. Der Druck der Operation schien auf ihr zu lasten. »Du hast mich also gefunden.«
»Ich bin hier, um Soja zu holen.« Raisas Stimme bebte vor Zorn.
»Wo ist Leo?«
»Ich bin allein.«
»Du lügst. Aber wir finden ihn schon noch. Die Stadt ist nicht besonders groß.«
»Lassen Sie Soja gehen.«
»Du tust gerade so, als ob ich sie euch geklaut hätte. Ich habe sie eher vor euch gerettet.«
»Was für Probleme wir als Familie auch haben mögen, wir lieben Soja. Sie nicht.«
Frajera schien diese Bemerkung gar nicht zu registrieren. »Soja wollte sich mir anschließen, also habe ich sie gelassen. Sie kann tun, was immer ihr beliebt. Wenn sie mit dir nach Hause gehen will, bitte sehr. Ich werde sie nicht aufhalten.«
»Es ist einfach, sich das Wohlwollen eines Kindes zu erschleichen, wenn man es alles machen lässt und ihm genau das sagt, was es hören will, ihm ein Maschinengewehr in die Hand drückt und ihm weismacht, es sei ein Revolutionär. Was für eine verführerische Lüge! Aber ich glaube nicht, dass Soja Sie deswegen liebt.«
»Das verlange ich doch auch gar nicht. Du und Leo dagegen, ihr verlangt Liebe. Ihr seid beide süchtig danach. Und tatsächlich war sie bei euch doch jämmerlich unglücklich. Bei mir hingegen fühlt sie sich pudelwohl.«
Über Frajeras Schulter hinweg konnte Raisa am Ende des Flurs einen Verletzten sehen, der auf einem Küchentisch lag. Es gab keinen Arzt und kaum nennenswerte Instrumente, nur blutige Lappen und kochendes Wasser.
»Wenn Sie hierbleiben, werden Sie sterben. Und Soja wird mit Ihnen sterben.«
Frajera schüttelte den Kopf. »Dass du dich um Sojas Wohlbefinden sorgst, ist noch kein Beweis für deine Mutterschaft. Du bist ebenso wenig ihre Mutter wie ich.«
* * *
Raisa wachte auf. Der Raum war dunkel und kalt. Zitternd zog sie die dünne Bettdecke fester um sich. Es herrschte Nacht, nichts rührte sich in der Stadt. Sie hatte nicht erwartet, schlafen zu können, aber kaum hatte sie sich hingelegt, waren ihr auch schon die Augen zugefallen. Jetzt stand auf dem Boden ein Teller mit Fleisch und Kartoffeln, den man ihr hingestellt haben musste, während sie geschlafen hatte. Sie streckte den Arm aus und zog den Teller näher heran. Erst da fiel ihr auf, dass die Tür offen stand.
Raisa stand auf, schlich hinaus und spähte ins Treppenhaus. Alle Flure waren verwaist. Wenn sie fliehen wollte, brauchte sie einfach nur die Wohnung zu verlassen, das Treppenhaus hinabzusteigen und auf die Straße zu laufen. War es möglich, dass Soja das Schloss aufgebrochen und die Tür für sie geöffnet hatte? Dass sie ihr helfen wollte und doch gleichzeitig ihre Gefühle vor ihr verbarg?
Wer immer das gemacht hatte, war nicht nur listig, sondern überdies auch noch geschickt, ging aber trotzdem von einer völlig falschen Annahme aus. Denn Raisa war ja gar nicht hier, um zu fliehen, sondern um Soja nach Hause zu holen. Soja wusste das auch. Außerdem zeugte dieses Vorgehen von umsichtiger Planung und passte so gar nicht zu Soja, die immer mit dem Kopf durch die Wand wollte.
Nervös geworden, stahl Raisa sich zurück. Im selben Moment tauchte in der Tür eine Silhouette auf. Es war die eines Jungen. Flüsternd sprach er sie an. »Warum fliehen Sie nicht?«
»Nicht ohne
Weitere Kostenlose Bücher