Kolyma
warf ihm von Zeit zu Zeit verstohlen einen feindseligen Blick zu. Raisa hatte recht. Die beiden waren ganz eindeutig ineinander verliebt.
Leo konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass die ungarische Seite gesiegt haben sollte. Er hatte die Aufständischen gesehen, mit kaum mehr als Ziegelsteinen und Molotowcocktails bewaffnet. Sie hatten zwar furchtlos gekämpft, weil es um ihre Heimat ging, um die eigene Scholle. Aber eine vernünftige Strategie hatte Leo als ehemaliger Soldat dahinter nicht entdecken können. Der Aufstand war planlos und improvisiert. Die Rote Armee hingegen war das mächtigste Heer der Welt, zahlenmäßig ebenso wie in Bezug auf die Ausrüstung. Panin und seine Mitverschwörer wollten, dass das so blieb. Den Verlust Ungarns würde man niemals hinnehmen, egal wie blutig der Konflikt wurde. Doch als er jetzt durch die Stadt marschierte, stellte Leo zu seiner eigenen Überraschung fest, dass es tatsächlich nirgendwo mehr sowjetische Truppen gab, weder Panzer noch Soldaten. Viele der ungarischen Rebellen hatten bereits ihre Stellungen verlassen.
Frajera blieb stehen. Sie waren an einem Bürogebäude angekommen, einem nicht sehr großen und unscheinbaren Komplex. Vor dem Eingang herrschte Unruhe, es war ein einziges Kommen und Gehen. Karoly schleppte sich nach vorn und schloss zu Leo auf.
»Das ist das Hauptquartier des AVH.«
»Hier steckt also Ihr Sohn?«, frage Leo.
»Normalerweise arbeitet er hier. Aber die Agenten sind sicher geflohen, sobald der Aufruhr losging.«
Frajera bemerkte, dass die beiden miteinander redeten. Sie drängte sich durch ihre Männer.
»Wisst ihr, was das ist?«, fragte sie. »Das ist der Sitz der ungarischen Geheimpolizei. Die Leute sind stiften gegangen und verstecken sich jetzt irgendwo. Aber wir werden sie schon finden.«
Karoly gelang es, seine Besorgnis vor ihr zu verbergen.
Frajera fuhr fort. »Jetzt, wo die Stadt befreit ist, steht das Gebäude allen offen. Die Geheimnisse, die hier gehütet wurden, sind jetzt keine mehr.«
Die meisten Aufständischen blieben draußen. Es herrschte ein zu großes Gedränge, als dass alle hineingekonnt hätten. Frajera führte eine kleinere Gruppe durch die Tür und betrat einen Innenhof. Massen getippter und abgestempelter Papiere regneten von den Balkonen herab, die Bürokratie des Terrors. Es fing schon an zu dämmern. Immer wieder fiel der Strom aus. Um dem abzuhelfen, wurden Kerzen entzündet und auf den Balkonen und in den Fluren aufgestellt. Die Räume quollen über vor Menschen, die Akten durchwühlten. Im Kerzenlicht blätterten Männer und Frauen die Informationen durch, die man über sie gesammelt hatte. Übersetzungen der Dokumente brauchte Leo nicht, ihm reichte schon der Anblick der weinenden Menschen. Die Akten enthielten auch die Namen der Familienmitglieder oder Freunde, von denen sie denunziert worden waren, und das, was diese Leute über sie ausgesagt hatten. Als hätte man hundert Spiegel auf den Boden geworfen, sah Leo, wie überall um ihn herum der Glaube an die Menschheit erschüttert wurde. »Nach unten«, raunte Frajera.
Die Büros waren zwar voller Menschen, die Treppe zum Keller jedoch verwaist. Jeder nahm eine Kerze, dann stiegen sie hinunter. Die Luft war feucht und kühl. Leo konnte sich nicht nur vorstellen, was in den Akten stand, er wusste auch, was sie im Keller finden würden: die Zellen, wo man die Verdächtigen verhört und gefoltert hatte.
Wasser tropfte auf den rissigen Betonboden. Alle Zellentüren waren aufgebrochen worden. In der ersten Zelle standen ein Tisch und zwei Stühle. Die zweite besaß lediglich einen in der Mitte eingelassenen Abfluss. Leo beobachtete, was auf Sojas Gesicht vorging. Wie gerne hätte er sie jetzt hochgehoben und herausgetragen. Sie nahm Malyschs Hand. Verzweifelt ballte Leo die Fäuste. Wie lange wollte Frajera denn noch hier unten bleiben? Zu seiner Überraschung machte dieser Ort der sonst so furchtlos erscheinenden Frajera erkennbar zu schaffen. Leo stellte sich die Folterungen vor, die sie nach ihrer Verhaftung durchlitten haben musste.
Schließlich seufzte sie. »Trinken wir einen darauf, dass das alles jetzt ein Ende hat.«
Einen Moment lang stand sie da im Halbdunkel und war wieder ein Mensch.
* * *
Frajera wollte die Erste sein, die den Sieg feierte. Das Fest sollte im Hof des von ihr in Beschlag genommenen Hauses stattfinden, und jedermann war eingeladen. Frajera hatte kistenweise Alkohol besorgt, Schnaps und Champagner aus den
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