Kolyma
Soja.«
Er sprang vor, stellte ein Bein aus und hebelte Raisa zu Boden. Gleichzeitig presste er ihr eine Hand auf den Mund und unterdrückte damit ihren Schrei. Bewegungsunfähig lag Raisa auf dem Rücken. Sie fühlte das Messer, das ihr an den Hals gedrückt wurde.
»Du hättest weglaufen sollen«, flüsterte der Junge.
Durch seine Finger hindurch presste sie erneut hervor: »Nicht ohne Soja.«
Bei der Erwähnung von Sojas Namen spürte sie, wie er starr wurde und ihr die Klinge noch fester an den Hals drückte. »Magst... du sie?«, fragte Raisa.
Er drückte nicht mehr ganz so fest zu. Sie hatte also recht. Hier ging es um Soja. Der Junge hatte Angst, sie zu verlieren.
»Hör mir zu«, fuhr Raisa fort. »Sie ist in Gefahr. Und du auch. Komm mit uns.«
»Sie gehört dir nicht!«
»Da hast du recht, sie gehört mir nicht. Aber sie liegt mir sehr am Herzen. Und wenn es dir genauso geht, dann werden wir zwei eine Möglichkeit finden, sie hier rauszuholen. Du merkst doch, dass ich mich anders anhöre als Frajera? Du weißt ganz genau, dass ich Angst um Soja habe. Und du weißt auch, dass sie Frajera egal ist.«
Der Junge nahm das Messer von ihrem Hals weg. Er schien abzuwägen. Raisa erriet seine Gedanken. »Komm mit uns zurück. Du bist der Grund, warum Soja glücklich ist, nicht Frajera.«
Der Junge sprang auf, rannte aus dem Zimmer und schlug die Tür zu. Dann fiel ihm ein, dass ja das Schloss kaputt war, und er machte sie wieder auf. »Tu so, als hättest du versucht auszubrechen. Sonst bringen die anderen mich um.«
Der Junge verschwand.
»Warte!«, rief sie ihm hinterher.
Der Junge kam noch einmal zurück.
»Wie heißt du?«
Er zögerte. »Malysch.«
28. Oktober
Leo zählte mindestens dreißig Panzer. Hintereinander fuhren sie über die wichtigste Einfallstraße in die Stadt. Ein Aufmarsch in dieser Größenordnung, noch dazu um sechs Uhr morgens, konnte nur bedeuten, dass die richtige Invasion der Sowjetarmee unmittelbar bevorstand. Schon bald würde der Aufstand niedergeschlagen sein.
Leo rannte den Hügel hinab, zurück in Karolys Wohnung. Im Treppenhaus nahm er zwei Stufen auf einmal. Oben angekommen, stieß er die Tür auf. Karoly saß an einem Tisch und las ein Flugblatt.
»Die Sowjets haben über dreißig Panzer in Marsch gesetzt«, berichtete Leo. »Sie rollen gerade in die Stadt. Wir müssen sofort nach Soja und Raisa suchen.«
Karoly reichte ihm das Flugblatt. Ungeduldig warf Leo einen Blick darauf. In der oberen Hälfte war ein Foto.
Es war seins.
Karoly übersetzte den Text: »Dieser Mann ist ein sowjetischer Spion. Er hat sich als einer von uns verkleidet. Melden Sie seinen Aufenthaltsort unverzüglich dem nächsten revolutionären Stützpunkt.«
Leo legte das Flugblatt ungeduldig zurück auf den Tisch. »Frajera sucht nach mir. Das ist der Beweis, dass sie Raisa gefangen genommen hat.«
»Leo, Sie sind da draußen nicht mehr sicher«, warnte Karoly.
Aber Leo riss schon die Tür auf. »Wenn sowieso schon an jeder Straßenecke russische Panzer stehen, kümmert sich kein Mensch mehr um einen lächerlichen russischen Spion.«
Die Tür zur gegenüberliegenden Wohnung stand offen, das Gesicht des Nachbarn lugte um die Ecke. Für einen Moment sahen die beiden sich an. Dann schloss der Nachbar die Tür.
Am selben Tag
Zwei wory betraten Raisas Zelle, zerrten sie an den Armen hoch und führten sie durch den Flur bis auf den Balkon. Unten auf dem Platz hatte sich eine Menschenmenge versammelt. In ihrer Mitte stand Frajera. Als sie sah, dass Raisa angekommen war, bedeutete sie ihren Männern beiseitezutreten. Sie machten Platz, und zum Vorschein kamen Leo und Karoly, beide auf Knien und die Arme vor dem Körper gefesselt, als seien sie feilgebotene Sklaven. Soja stand mitten unter den Schaulustigen.
Leo erhob sich. Sofort richteten sich Gewehre auf ihn, doch auf eine Handbewegung von Frajera hin wurden sie wieder gesenkt. »Lasst ihn reden.«
»Frajera, wir haben nicht viel Zeit. Jetzt schon befinden sich über dreißig T -34 -Panzer in der Stadt. Die Sowjets werden diesen Aufstand niederschlagen. Und sie werden jeden töten, der eine Waffe trägt, ob Mann, Frau oder Kind. Ihr habt nicht die geringste Chance zu gewinnen.«
»Da bin ich anderer Meinung.«
»Frol Panin lacht doch nur über euch. Der ganze Aufstand ist eine Inszenierung. Hier geht es gar nicht um die Zukunft Ungarns. Ihr werdet doch alle nur hintergangen.«
»Du verstehst wirklich gar nichts, Maxim. Nicht etwa
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