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Kolyma

Kolyma

Titel: Kolyma Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Rob Smith
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Waisenhaus in diese Wohnung gezogen waren. Damals war sie wild entschlossen gewesen, Leo umzubringen. An ebendiesem Tag war er mit ihnen in den Zoo gegangen. Weder sie noch Elena hatten je einen Zoo gesehen, und beim Anblick der exotischen Tiere, Kreaturen, die sie nie zuvor zu Gesicht bekommen hatte, hatte sie sich für einen Moment vergessen. Fünf oder zehn Minuten, aber bestimmt nicht länger, hatte der Zoobesuch ihr Spaß gemacht. Sie hatte gelächelt. Er hatte es zwar nicht mitbekommen, da war sie sich sicher, aber das änderte nichts. Als sie ihn mit Raisa gesehen hatte, ein glückliches Paar, das Familie spielte, heuchelte und log, da war ihr klar geworden, dass sie versuchten, sich den Platz ihrer Eltern zu ergaunern. Und sie hatte es zugelassen. In der Straßenbahn auf dem Weg nach Hause hatte sie sich so schuldig gefühlt, dass sie sich übergeben musste. Leo und Raisa hatten es auf die Süßigkeiten und das Ruckeln der Trambahn geschoben. In jener Nacht hatte sie, vom Fieber geschüttelt, in ihrem Bett gelegen und geweint und sich die Beine blutig gekratzt. Wie hatte sie nur das Andenken ihrer Eltern so leichtfertig verraten können? Leo glaubte wohl, dass er mit neuen Kleidern, leckerem Essen, Ausflügen und Schokolade ihre Liebe erringen konnte - widerlich! Sie hatte sich geschworen, dass ihr so ein Fehler nie wieder passieren würde. Und es gab nur eine Methode, um ganz sicher zu sein. Da hatte sie das Messer genommen, fest entschlossen, ihn zu töten. Sie hatte genauso dagestanden wie jetzt, zum Mord bereit.
    Dieselbe Erinnerung aber, die sie in das Zimmer getrieben hatte, die Erinnerung an ihre Eltern, war auch der Grund, warum sie Leo dann doch nicht umgebracht hatte. Sie hätten nicht gewollt, dass das Blut dieses Mannes an ihren Händen klebte. Sie hätten gewollt, dass sie sich um ihre kleine Schwester kümmerte. Also ließ sie Leo gehorsam und heimlich weinend am Leben. Immer wieder kehrte sie zurück und schlich sich mit einem Messer ins Schlafzimmer, aber nicht, weil sie ihre Meinung geändert hatte, nicht aus Rachegedanken, sondern im Angedenken an ihre Eltern. Es war ihre Art zu sagen, dass sie sie nicht vergessen hatte.
    Plötzlich klingelte das Telefon. Soja fuhr zurück, das Messer glitt ihr aus der Hand und schepperte zu Boden. Soja ging auf die Knie und versuchte in der Stockfinsternis verzweifelt, es wiederzufinden. Leo und Raisa bewegten sich, das Bett knarrte unter ihnen. Gleich würden sie nach dem Lichtschalter greifen. Ganz aufs Tasten angewiesen, klopfte Soja verzweifelt die Dielen ab. Als das Telefon zum zweiten Mal klingelte, blieb ihr nichts anderes übrig, als das Messer zurückzulassen, um das Bett zu huschen und zur Tür zu eilen. In dem Moment, als das Licht anging, schlüpfte sie durch den Spalt.

    * * *

    Schlaftrunken setzte Leo sich auf, immer noch zwischen Traum und Wachen. Da hatte sich doch etwas bewegt, eine Gestalt. Oder doch nicht? Das Telefon klingelte. Grundsätzlich klingelte es nur wegen der Arbeit. Leo sah auf die Uhr: fast Mitternacht. Er warf einen Blick auf Raisa. Sie war wach und wartete darauf, dass er dranging. Er murmelte eine Entschuldigung und stand auf. Die Tür stand offen. Die machten sie doch immer zu, bevor sie schlafen gingen. Vielleicht auch nicht, spielte ja auch keine Rolle. Er trat in den Flur.
    Leo nahm den Hörer ab. Die Stimme am anderen Ende klang dringlich und laut.
    »Ich bin's, Leo. Nikolai.«
    Nikolai. Der Name sagte ihm nichts. Leo gab keine Antwort. Der Mann interpretierte sein Schweigen richtig und fuhr fort: »Nikolai, dein früherer Chef! Dein Freund! Ich habe dir damals deinen ersten Auftrag gegeben. Der Priester, weißt du noch?«
    Leo wusste noch. Von Nikolai hatte er schon lange nichts mehr gehört. Der Mann hatte in seinem jetzigen Leben nichts mehr zu suchen, und es passte ihm gar nicht, dass er anrief. »Nikolai, es ist schon spät.«
    »Spät? Was ist denn mit dir los? Früher haben wir um diese Zeit erst angefangen zu arbeiten.«
    »Jetzt nicht mehr.«
    »Nein, jetzt nicht mehr.« Nikolais Stimme verlor sich, doch dann fuhr er laut fort: »Ich brauche dich sofort.« Er lallte. Er war betrunken.
    »Nikolai, warum schläfst du dich nicht erst mal aus und wir reden morgen?«
    »Es muss unbedingt noch heute Abend sein!« Seine Stimme brach. Er hörte sich an, als ob er gleich losheulen würde.
    »Was ist denn los?«
    »Triff dich mit mir. Bitte!«
    Leo wollte Nein sagen. »Wo?«
    »In deinem Büro.«
    »Ich bin in einer

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