Kolyma
abgesehen von meinen Eltern?«
»Das reicht!«
»Ihr habt es die ganze Zeit gewusst. Ihr wusstet, womit er sein Geld verdiente, und es war euch egal, weil ihr gern in einer schönen Wohnung wohnen wolltet. Ihr seid genauso schlimm wie er. Er war wenigstens bereit, sich dafür die Finger schmutzig zu machen!«
Anna schlug zu, eine saftige Ohrfeige. Dabei schrie sie auf sie ein. »Du weißt ja nicht, wovon du redest, Fräulein. So redest du nur, weil du verwöhnt bist. Seit drei Jahren sehen sie dir jetzt schon alles nach. Du kannst machen, was immer du willst. Noch nie bist du gescholten worden. Wir haben das mitangesehen und nichts gesagt. Leo und Raisa wollten dir alles geben. Und jetzt sieh dich an, sieh, was aus dir geworden ist. Undankbar und verabscheuenswürdig bist du, und dabei versuchen doch alle nur, dich zu lieben.«
Der Schlag brannte Soja im Gesicht, und das Gefühl breitete sich über ihren ganzen Körper aus, von ihrer stechenden Fingerspitze bis hinauf in den Nacken. Ihre Hand schoss vor, und sie kratzte Anna, grub ihre Fingernägel so tief ein und riss so viel Haut ab, wie es nur ging. »Ich scheiße auf eure Liebe!«
Anna schrie auf und fuhr zurück. Aber Soja war noch nicht fertig, wie Klauen schlugen ihre Finger nach Anna. Raisa hielt ihr den Arm fest und drehte ihn um. Außer sich suchte Soja nach einem neuen Ziel und richtete ihre Wut gegen Raisa. So fest sie nur konnte, biss sie ihr in den Arm.
Der Schmerz war so heftig, dass Raisa schwindelig wurde und ihr fast die Beine wegknickten. Stepan packte Sojas Kiefer und riss sie auseinander, als hätte er es mit einem tollwütigen Hund zu tun. Blut strömte aus den tiefen Bissmalen. Soja strampelte und trat wie wild um sich. Stepan warf sie zu Boden, wo sie mit blutverschmierten, gefletschten Zähnen liegen blieb.
Es klopfte an der Tür. Die Wachen hatten den Tumult gehört und wollten hinein. Raisa untersuchte den Biss: Er blutete heftig. Soja lag immer noch auf dem Fußboden, die Augen wild, aber nicht mehr kampfeslustig. Stepan eilte ins Badezimmer und kam mit einem Handtuch zurück, das er auf Raisas Arm presste. Es klopfte wieder. Raisa drehte sich zu Anna um, die noch fast genauso dastand wie eben, als sie angegriffen worden war. Über ihr Gesicht zogen sich Kratzer, vier blutige Linien.
»Anna, wimmele die Polizisten ab. Sag ihnen, sie brauchen nicht einzugreifen.«
Anna reagierte nicht. Raisa musste laut werden. »Anna!«
Ihre geschundene Gesichtshälfte abwendend, öffnete Anna die Tür und wollte die beiden Wachposten beruhigen. Sie hatte zwei Polizeibeamte erwartet und stutzte, als jetzt vier draußen standen, als hätten sie sich wie Bakterien geteilt und vermehrt. Die beiden neuen Beamten trugen allerdings andere Uniformen. Sie gehörten zum KGB.
Die KGB-Agenten betraten die Wohnung und registrierten alles, was sie sahen: das Mädchen mit den blutigen Zähnen und dem blutigen Mund auf dem Boden; die Frau mit dem blutenden Arm; die ältere Frau mit dem zerkratzten Gesicht.
»Raisa Demidowa?«
Mit absurd anmutender Entschlossenheit versuchte Raisa, ihre Stimme fest und ruhig klingen zu lassen, während sich das Handtuch über ihren Bisswunden schon rot färbte. »Ja?«
»Wir müssen Ihre Tochter mitnehmen.« Ihre Aufmerksamkeit wandte sich Soja zu.
Raisas Plan war fehlgeschlagen. Entweder Julia oder der Schuldirektor hatten sie verraten. Ihrer Verletzung und allem, was gerade erst geschehen war, zum Trotz stellte sich Raisa instinktiv und beschützend vor Soja.
»Ihre Tochter hat ein Porträt von Stalin zerstört.«
»Wir kümmern uns bereits um die Angelegenheit.«
»Wir müssen sie mitnehmen.«
»Ist sie verhaftet?«
Als sie merkte, dass die KGB-Agenten entschlossen waren, ihren Befehl auszuführen, wandte Raisa sich an die eingeschüchterten Milizbeamten, die Polizisten, die Leo zu ihrem Schutz gesandt hatte. »Sie werden wohl warten müssen, bis mein Mann zurückgekehrt ist, nicht wahr?«
Der Ältere der beiden KGB-Agenten schüttelte den Kopf. »Unser Befehl lautet, Ihre Tochter zum Verhör zu bringen. Ihr Mann hat nichts damit zu tun.«
»Diese Männer haben Befehl sicherzustellen, dass wir hierbleiben, und zwar gemeinsam, bis mein Mann wieder da ist.«
Unterwürfig trat der Milizbeamte vor. Raisas Mut sank. »Das sind Beamte vom KGB ...«
»Leo ist sicher gleich da. Wir bleiben zusammen, bis er kommt. Er kann das hier bestimmt aufklären. Sie ist doch erst vierzehn. So schnell wird man sie ja wohl nicht
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