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Kolyma

Kolyma

Titel: Kolyma Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Rob Smith
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wenige Zentimeter betragen konnte. Ihr blieb ohnehin keine Wahl, als loszulassen.
    Den Bruchteil einer Sekunde fiel sie, dann trafen ihre Füße auf den Sims unter ihr. Sie versuchte, das Gleichgewicht zu finden, und schwankte hin und her, da hörte sie Sojas Stimme. Als sie über ihre Schulter blickte, sah sie die Männer aus dem Vordereingang kommen, einer trug Soja, der andere richtete seine Waffe auf Raisa. Auf dem schmalen Sims balancierend, hatte sie keine Chance.
    Der Mann feuerte. Sie sah das Mündungsfeuer aufblitzen, dann zerbarst Glas. Raisa fiel dem Schnee entgegen.

    Am selben Tag

    Ungewaschen und immer noch nach Kanalisation stinkend holte Leo alles aus dem Lastwagen heraus. Die Karre war schwerfällig und langsam und überhaupt nicht das, was er in der Eile brauchen konnte. Aber der Laster war nun einmal das erste Fahrzeug gewesen, das Timur und er hatten requirieren können, nachdem sie fast einen Kilometer südlich von der Stelle, wo sie ursprünglich in das Abwassersystem eingestiegen waren, wieder herausgekrochen kamen. Obwohl seine Hände wie Hackfleisch aussahen, hatte er abgelehnt, dass Timur fuhr, stattdessen ein Paar Handschuhe angezogen und mit den Fingerspitzen das Lenkrad ergriffen. Jedes Mal, wenn er schalten musste, stiegen ihm Tränen in die Augen. Er war zur Wohnung seiner Eltern gefahren, nur um dort zu erleben, dass der ganze Bereich von der Miliz abgesperrt war. Elena, Raisa und seine Eltern hatte man in ein Krankenhaus gebracht. Elena wurde wegen eines Schocks behandelt. Raisa war in kritischem Zustand. Soja war verschwunden.
    Schlitternd brachte er das Fahrzeug vor dem Städtischen Notfallkrankenhaus 31 zum Stillstand, ließ es mit den Schlüsseln im Zündschloss am Rand stehen und rannte hinein, Timur auf seinen Fersen. Alle starrten sie an, entsetzt über ihren Anblick und Gestank. Aber Leo achtete nicht darauf, was für ein Bild er abgab - er wollte Antworten. Endlich wurde er auf die Station geführt, wo Raisa um ihr Leben kämpfte.
    Vor dem Operationssaal erklärte ein Chirurg ihm, dass Raisa aus einiger Höhe abgestürzt war und unter inneren Blutungen litt.
    »Wird sie überleben?«
    Der Arzt wagte keine Prognose.
    Als er die Privatstation betrat, wo Elena behandelt wurde, sah Leo seine Eltern an ihrem Bett stehen. Anna trug ein Pflaster auf dem Gesicht. Stepan schien unverletzt. Elena schlief, ihr kleiner Körper verlor sich beinahe in dem großen Krankenhausbett. Man hatte ihr ein leichtes Beruhigungsmittel verabreicht, weil sie hysterisch geworden war, als sie begriffen hatte, dass Soja fort war. Leo streifte einen blutdurchtränkten Handschuh ab, nahm Elenas Hand und drückte sie voller Mitleid gegen sein Gesicht. Er hätte ihr gern gesagt, wie leid es ihm tat.
    Timur legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Frol Panin ist da.«
    Leo folgte Timur zu dem Büro, das Panin und sein bewaffnetes Gefolge in Beschlag genommen hatten. Die Bürotür war verriegelt. Nur wer vorher seinen Namen nannte, gelangte hinein. Drinnen befanden sich zwei uniformierte und bewaffnete Wachposten. Obwohl Panin unaufgeregt und elegant wie immer wirkte, verriet dieser zusätzliche Schutz dennoch, dass er Angst hatte.
    Er las Leos Erkenntnis in dessen Augen ab. »Alle haben Angst, Leo. Jedenfalls alle, die an der Macht sind.«
    »Sie hatten mit Lasars Verhaftung doch gar nichts zu tun.«
    »Das Problem beschränkt sich nicht nur auf Ihren Hauptverdächtigen. Was ist, wenn sein Verhalten andere zu Racheakten verleitet? Was ist, wenn jeder, dem Unrecht widerfahren ist, jetzt Vergeltung sucht? Leo, so etwas wie das hier ist noch nie vorgekommen: Unsere eigenen Staatssicherheitsleute werden verfolgt und umgebracht. Wir haben keine Ahnung, was als Nächstes kommt.«
    Leo schwieg. Ihm wurde klar, dass es Panin nicht etwa um Raisas, Elenas oder Sojas Wohlergehen ging, sondern um die weiter reichenden Auswirkungen. Er war ein Vollblutpolitiker, der in den Dimensionen von Nationen und Armeen, Grenzen und Regionen dachte, nicht in denen einzelner Menschen. Er war zwar charmant und unterhaltsam, dennoch umgab ihn eine gewisse Kälte, die in Momenten wie diesem sichtbar wurde, wo ein normaler Sterblicher wenigstens ein paar Worte des Trostes gefunden hätte.
    Es klopfte an der Tür. Die Wachposten griffen nach ihren Pistolen.
    Eine Stimme rief: »Ich suche den Beamten Leo Demidow. Für ihn wurde ein Brief am Empfang abgegeben.«
    Panin nickte den Wachleuten zu, die vorsichtig und mit gezückten Waffen die

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