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Kolyma

Kolyma

Titel: Kolyma Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Rob Smith
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irgendwo hinbringen müssen. Wir können warten.«
    Der KGB-Mann trat näher und wurde lauter. »Wir müssen sie jetzt sofort mitnehmen!«
    Irgendetwas an der Ungeduld der KGB-Leute war verdächtig. Das ganze Verhalten dieser Agenten war verdächtig. Der Ältere übernahm das ganze Reden, während der Jüngere nur stumm danebenstand und sich offensichtlich unwohl fühlte. Sein Blick wechselte vom einen zum anderen, so als würde er damit rechnen, dass ihn im nächsten Moment jemand angriff. Beide wirkten irgendwie linkisch in ihren Uniformen. Wieso waren sie überhaupt so schnell da gewesen? Normalerweise dauerte es Stunden, bis der KGB einen Plan fasste und eine Verhaftung anordnete. Und was noch seltsamer war, warum waren sie zu dieser Adresse gekommen? Wie konnten sie wissen, dass Raisa nicht zu Hause sein würde? Misstrauisch geworden durch diese Unstimmigkeiten, richtete Raisa den Blick auf den Hals des Agenten. Über dem Hemdkragen lugte irgendein Fleck hervor: Es war die Ecke einer Tätowierung.
    Diese Männer waren gar nicht vom KGB.
    Raisa warf einen verstohlenen Blick auf die Milizbeamten und versuchte ihnen die Gefahr klarzumachen, in der sie schwebten. Die Polizisten hatten sich von der Verkleidung dieser Agenten an der Nase herumführen lassen, weil sie es schon bei der bloßen Erwähnung des KGB mit der Angst bekamen. Im Bemühen, die Aufmerksamkeit der Miliz auf sich zu lenken, wurde sie stattdessen von dem Hochstapler bemerkt. Mochten auch die Polizeibeamten ihre Signale nicht verstehen, er verstand sie. Bevor Raisa auch nur die Hand heben konnte, um die Miliz zu warnen, hatte der Tätowierte schon seine Waffe gezogen. Er drehte sich um und feuerte zweimal, je eine Kugel in die Stirn der beiden Beamten. Während sie zu Boden fielen, richtete der Mann seine Waffe auf Raisa.
    »Ich nehme jetzt Ihre Tochter mit.«
    Raisa trat näher an die Mündung heran und deckte Soja, die immer noch zusammengekrümmt am Boden lag. »Nein.« Die Waffe wanderte zu Elena. »Geben Sie mir Soja. Sonst töte ich Elena.« Ein Schuss fiel.
    Die Kugel verfehlte Elena und schlug in die Wohnungswand ein - eine Warnung. Als sie in seine Augen blickte, zweifelte Raisa keinen Augenblick daran, dass dieser Mann eine Siebenjährige ebenso leichten Herzens töten würde, wie er die beiden Beamten erschossen hatte. Raisa musste eine Entscheidung treffen. Sie trat zur Seite und ließ es zu, dass sie Soja mitnahmen.
    Mühelos hob der Mann Soja hoch. »Wenn du dich wehrst, schlage ich dich bewusstlos.«
    Er warf sie über seine Schulter und rief, während er sie zur Tür trug: »Ihr bleibt in der Wohnung!«
    Sie zogen den Schlüssel ab. Die Wohnungstür ging zu und wurde verriegelt.
    Raisa stürzte zu Elena und hockte sich hin. Elena saß auf den Knien und starrte auf den Boden. Ihr Körper zitterte, ihre Augen waren leer. Sie nahm Elenas Hand, hob ihren Kopf und versuchte zu ihr durchzudringen. »Elena?«
    Das Mädchen schien sie nicht zu hören, es gab keine Antwort.
    »Elena?«
    Immer noch keine Antwort, kein Erkennen, kein Bewusstsein. Elenas Körper war schlaff.
    Raisa übergab Elena in Annas Obhut, stand auf und rüttelte an der Türklinke. Kein Hinauskommen. Sie sprang zurück zu den Leichen der Beamten, nahm einem die Waffe ab und steckte sie sich hinten in den Hosenbund. Dann rannte sie durchs Wohnzimmer und öffnete die Tür zu dem kleinen Balkon. Stepan hielt sie am Arm.
    »Was hast du vor?«
    »Passt auf Elena auf.«
    Raisa trat auf den Balkon und schloss die Tür hinter sich.
    Sie waren im siebten Stock, etwa zwanzig Meter über der Straße. Unmittelbar darunter befanden sich genau gleiche Balkone, einer nach dem anderen. Die konnte sie nacheinander als Haltepunkte benutzen und einen Balkon nach dem anderen hinunterklettern. Wenn sie allerdings abstürzte, würden die kleinen Schneehaufen ihren Fall nicht nennenswert abfedern.
    Raisa streifte sich die dünn besohlten Schuhe von den Füßen und kletterte auf den Sims. Sie hatte nicht an die Bisswunde in ihrem Arm gedacht, die immer noch blutete. Der Arm fühlte sich geschwächt an, ihr Griff weniger fest. Unsicher, ob sie ihr eigenes Gewicht würde halten können, umklammerte sie den eiskalten Betonvorsprung und ließ sich außen am Balkonsims herunter. Jetzt hing sie nur noch an ihren Fingern. Blut tropfte ihr auf die Schulter. Selbst wenn sie sich ganz lang machte, erreichte sie den Balkonsims im sechsten Stock nicht. Sie riskierte die Schätzung, dass der Abstand nur noch

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