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Kolyma

Kolyma

Titel: Kolyma Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Rob Smith
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Tür öffneten. Einer nahm den Brief in Empfang, während der andere den Mann durchsuchte, der ihn gebracht hatte, aber nichts entdeckte. Man überreichte Leo den Umschlag.
    Auf dem Umschlag war mit Tusche sorgfältig ein Kruzifix aufgemalt. Leo riss ihn auf und zog ein einzelnes Blatt Papier heraus.

An der Kirche der Heiligen Sophia
    Um Mitternacht
    Allein

    15. März

    Eine halbe Stunde nach Mitternacht wartete Leo an dem Ort, wo einst die Kirche der Heiligen Sophia gestanden hatte. Jetzt waren die Kuppeln und Heiligtümer verschwunden. An ihrer Stelle erstreckte sich ein riesiges Loch, zehn Meter tief, zwanzig breit und siebzig lang. An einer Seite war die Grubenwand abgerutscht und ein unregelmäßiger Abhang entstanden, der hinunter in das mit braunem Schneematsch, Eis und Schlammwasser gefüllte Loch führte. Auch die übrigen Seiten drohten einzustürzen; so, wie sie sich nach innen neigten, wirkten sie wie ein Maul, das sich um eine riesige schwarze Zunge schloss. Seit 1950 ruhten die Arbeiten. Eine Baustelle ohne Bautätigkeit, abgesperrt und stillgelegt. Rund um den eisernen Absperrzaun befanden sich verblichene Warnschilder, Zutritt verboten. Nach dem ersten, schiefgegangenen Versuch, bei dem ein Sprengmeister getötet und mehrere Schaulustige verletzt worden waren, war die Kirche abgerissen und abtransportiert worden. Man hatte die Trümmer auf Lastwagen geschaufelt und irgendwo außerhalb der Stadt abgekippt, sie waren jetzt nur noch ein von Unkraut überwachsener Schutthaufen. Auf dem abgeräumten Gelände hatten die Vorarbeiten für die größte Schwimmsporthalle im ganzen Land begonnen, die unter anderem ein fünfzig Meter langes Schwimmbecken und mehrere banjas haben sollte, eine für Männer, eine für Frauen und eine Marmorsauna für Staatsbeamte.
    Eine flächendeckende Medienkampagne hatte für die entsprechende Begeisterung gesorgt. Die Baupläne waren in der Prawda veröffentlicht worden, und in den Kinos liefen Wochenschauen, in denen man echte Menschen vor den gemalten Kulissen der fertigen Halle sehen konnte. Doch während die Propaganda angeheizt wurde, kam die eigentliche Arbeit ins Stocken. Der Untergrund so nahe am Fluss war weich und drohte abzurutschen. Die Fundamente hatten sich schon bewegt und Risse bekommen, und nun bedauerten die Behörden, dass sie sich die alten Kirchenfundamente nicht genau angesehen hatten, bevor sie sie herausgerissen und weggeschmissen hatten. Einige der klügsten Köpfe des Landes wurden mit Lösungsvorschlägen beauftragt, kamen aber nach eingehender Analyse zu dem Schluss, dass der Grund sich nicht für ein Gebäude eignete, das ein ausgedehntes Netz von Rohrleitungen und Abflüssen benötigte, tiefer, als die Fundamente der Kirche je gereicht hatten. Man entließ daraufhin diese Experten und besorgte sich fügsamere, die nach einer anderen Art eingehender Analyse erklärten, das Problem sei lösbar, man brauche lediglich mehr Zeit. Das war die Antwort, die der Staat hatte hören wollen, denn er konnte ja schlecht zugeben, einen Fehler gemacht zu haben. Die zweiten Experten hatte man in luxuriösen Wohnungen untergebracht, wo sie Zeichnungen anfertigten, Zigarren rauchten und Berechnungen anstellten. Derweil füllte sich die Grube im Herbst mit Regenwasser, im Winter mit Schnee und im Sommer mit Mücken. Die Propagandafilme in den Kinos wurden abgesetzt. Die gewitzteren Bürger verstanden, dass es wohl am besten war, wenn man das ganze Projekt einfach vergaß. Unbesonnenere bemerkten trocken, dass eine Wassergrube nicht gerade ein angemessener Ersatz für eine dreihundert Jahre alte Kirche war. Im Sommer 1951 hatte Leo einen Mann verhaftet, weil er einen Witz in diese Richtung gemacht hatte.
    Leo sah auf seine Uhr. Er wartete jetzt schon über eine Stunde. Er zitterte vor Kälte und Erschöpfung, und seine Unrast machte ihn schier verrückt. Er hatte keine Ahnung, ob seine Frau die Operation überlebt hatte, und da er keinerlei Kommunikationsmöglichkeiten hatte, konnte er es auch nicht herausfinden. Es stand außer Frage, dass seine Entscheidung, Raisas Seite zu verlassen und sich mit den Erpressern zu treffen, die richtige gewesen war. Im Krankenhaus konnte er ohnehin nichts ausrichten. Doch egal, wie sehr Soja ihn hasste, egal, wie sie sich benommen hatte, egal, ob sie ihm den Tod wünschte - er hatte die Verantwortung für sie übernommen und versprochen, zu dieser Verantwortung zu stehen, ob sie ihn nun liebte oder nicht. In Vorbereitung auf das

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