Kolyma
Treffen war er nach Hause gefahren, hatte sich den Abwassergestank vom Leib geschrubbt, dann hatte er sich Zivilkleidung angezogen. Die Hände hatte man ihm schon im Krankenhaus verbunden. Schmerzmittel hatte er abgelehnt, weil er befürchtete, die würden seine Sinne trüben. Die Uniform hatte er bewusst abgelegt, weil er befürchtete, dass die Rangabzeichen der Staatsmacht einen rachsüchtigen Priester eher noch anstacheln würden.
Als er ein Geräusch hörte, drehte er sich um und suchte die Finsternis nach seinem Gegenspieler ab. Aus einigen benachbarten Gebäuden jenseits des Absperrzauns fiel ein schwaches Licht. Kostbare Baumaschinen - Kräne und Schaufelbagger - hatte man einfach abgestellt und dem Rost überlassen, weil niemand wagte, das Fiasko einzugestehen und sie an einen Einsatzort zu bringen, wo man sie hätte gebrauchen können. Leo hörte das Geräusch erneut, ein Klappern von Metall gegen Stein. Es kam nicht aus der Grube, sondern vom Fluss.
Vorsichtig näherte er sich dem Kai, beugte sich wachsam vor und spähte hinunter auf das Wasser. Nicht weit von dort, wo er stand, griff eine Hand nach oben. Behände zog ein Mann sich hoch und blieb einen Augenblick auf der Kaimauer hocken, dann sprang er hinunter auf das Baustellengelände. Neben ihm kletterte ein zweiter Mann herauf. Sie kamen aus der Mündung eines Abwasserkanals und kraxelten die Mauer hoch wie eine aufgescheuchte Ameisenkolonie, die auf eine Bedrohung reagierte. Leo erkannte den Jungen wieder, der den Patriarchen ermordet hatte, er kletterte als Nächster heraus und nutzte dabei gekonnt die Vorsprünge in der Mauer. So geschickt, wie er sich anstellte, war es kein Wunder, dass er den Sprung in den reißenden Kanal vorhin überlebt hatte.
Während die Bande ihn nach Waffen durchsuchte, musterte Leo sie. Es waren sieben Männer und der Junge. An ihren Hälsen und Händen hatten sie Tätowierungen. Einige ihrer Kleidungsstücke waren gut geschneidert, andere fadenscheinig. Nichts passte zusammen, so als hätten sie sich willkürlich aus den Kleiderschränken Hunderter verschiedener Leute bedient. Ihr Erscheinungsbild ließ keine Fragen offen. Sie gehörten einer kriminellen Bruderschaft an, den wory - einem Bündnis, das sie während ihrer Zeit in den Gulags geschlossen hatten. Trotz seines Berufs kamen Leo wory nur selten unter. Sie betrachteten sich als jenseits des Staates.
Die Bandenmitglieder verteilten sich und durchsuchten das Gelände, um sich zu vergewissern, dass keine Gefahr drohte. Schließlich pfiff der Junge, das Zeichen, dass die Luft rein war. Zwei Hände erschienen auf dem Kai. Lasar kletterte auf die Mauer, eine Silhouette im Licht von der anderen Uferseite, die die wory überragte. Nur war das gar nicht Lasar, sondern eine Frau. Es war Anisja, Lasars Ehefrau.
Anisjas Haar war kurz geschnitten, ihre Gesichtszüge hart. Alle Weichheit war aus ihrem Gesicht und ihrem Körper verschwunden. Dennoch erschien sie Leo lebendiger, temperamentvoller, heißblütiger als je zuvor, so als gehe eine enorme Kraft von ihr aus. Sie trug weite Hosen, ein offenes Hemd und eine kurze, dicke Jacke, nicht viel anders als ihre Männer. In ihrem Gürtel steckte eine Pistole, die die Banditenkluft vervollständigte. Von ihrem erhabenen Standpunkt aus blickte sie auf Leo hinab, stolz, dass ihr Auftauchen ihn überrascht hatte. Leo brachte nur ein einziges Wort heraus. Ihren Namen. »Anisja?«
Sie lächelte. Ihre Stimme war jetzt rau und dunkel, nicht mehr melodisch, nicht mehr die Stimme der Frau, die im Chor ihres Mannes gesungen hatte. »Dieser Name bedeutet mir nichts mehr. Meine Männer nennen mich Frajera.«
Nicht weit entfernt von der Stelle, wo Leo stand, sprang sie von der Mauer. Dann richtete sie sich auf und musterte sein Gesicht. »Maxim.«
Sie benutzte den Decknamen, den er sich damals zur Tarnung zugelegt hatte.
»Beantworte mir eine Frage und lüg nicht. Wie oft hast du an mich gedacht? Jeden Tag?«
»Nein.«
»Hast du einmal pro Woche an mich gedacht?«
»Nein.«
»Einmal im Monat?«
»Ich weiß es nicht mehr.«
Frajera gestattete ihm, sich in ein peinliches Schweigen zu flüchten, doch dann merkte sie an: »Ich garantiere dir, dass die Opfer jeden Tag an dich denken, am Morgen und auch am Abend. Sie erinnern sich an deinen Geruch und den Klang deiner Stimme. Sie erinnern sich so deutlich an dich, wie ich dich jetzt sehe.«
Frajera hob die rechte Hand. »Diese Hand hast du berührt, als du mir damals den Vorschlag
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