Kolyma
infrage, noch schlug er etwas vor. Wenn man ihm befahl, die Gefangenen hart anzufassen, würde er sie hart anfassen. Wenn er nett sein sollte, war er eben nett. Vielleicht lag es an seinem Kindergesicht, aber das Nettsein fiel ihm leichter als das Hartsein.
Jahrelang hatte die Stary Bolschewik Tausende politischer Gefangener transportiert, die nach Artikel 58 verurteilt worden waren, weil sie das Falsche gesagt hatten, am falschen Ort gewesen waren oder die falschen Leute gekannt hatten. Jetzt aber hatte sie eine neue Aufgabe, ihre Fracht war erlesener. Es handelte sich nur noch um die brutalsten und gefährlichsten Verbrecher, Männer, bei denen jedermann zugestimmt hätte, dass man sie auf keinen Fall wieder laufen lassen durfte.
* * *
In dem stockfinsteren Bauch der Stary Bolschewik befand sich neben den stinkenden Leibern von fünfhundert Mördern, Vergewaltigern und Dieben auch Leo. Die Schultern an die Bordwand gedrückt, lag er in einer der obersten Kojen. Auf der anderen Seite befand sich nichts als weites Meer, dessen eiskalte Wassermassen nur von einer Stahlplatte abgehalten wurden, die kaum dicker war als sein Daumen.
Am selben Tag
Die Luft war abgestanden und verpestet und erhitzt von dem vibrierenden Kohlenmotor, der sich im nächsten Schiffsraum befand. Die Gefangenen kamen zwar nicht an die Maschine heran, aber ihre Hitze drang durch die einfache Abtrennwand aus Holzbalken, die man nachträglich eingezogen hatte. Am Anfang der Reise war der Laderaum bitterkalt gewesen, und die Gefangenen hatten sich um die Kojen möglichst nahe am Motor geprügelt. Als nach wenigen Tagen die Temperaturen in die Höhe geschossen waren, prügelten sich dieselben Gefangenen nun um Kojen weiter weg. Der gesamte Laderaum unter Deck war in ein mit Sträflingen verseuchtes Insektennest verwandelt worden, das durchzogen wurde von einem Gitter schmaler Durchgänge, in denen zu beiden Seiten hohe Reihen von Stockbetten standen. Leo belegte eine der oberen Kojen, die er sich erkämpft und danach verteidigt hatte. Sie waren begehrt, weil sie weit über dem schmutz- und fäkalienübersäten Boden lagen. Je schwächer man war, desto weiter unten war man auch, beinahe so, als hätte man die Leute durch mehrere darwinistische Filter geschüttelt. Den rußigen Laternen, aus denen in der ersten Woche noch ein mattes Licht wie von Sternen im Smog einer Stadt geglommen hatte, war mittlerweile das Kerosin ausgegangen. Alles war so dunkel, dass Leo noch nicht einmal die Hand vor Augen sehen konnte, wenn er sich im Gesicht kratzte.
Es war ihr siebter Tag auf See. Leo hatte die Tage so gewissenhaft wie möglich gezählt und die nur höchst selten gewährten Besuche des Aborts dazu genutzt, sein Zeitgefühl wiederzuerlangen. An Deck, das festmontierte Maschinengewehr direkt auf sie gerichtet, mussten sich die Gefangenen in einer Reihe vor einem Loch aufstellen, das eigentlich für die Ankerkette vorgesehen war und von wo aus es direkt ins Meer ging. Es war eine hässliche Pantomime, wie die Gefangenen sich hinhockten und hin und her trippelnd versuchten, bei der kabbeligen, von eisigen Winden gepeitschten See ihr Gleichgewicht zu halten. Einige Gefangene, die sich nicht rechtzeitig anstellen konnten, konnten nicht mehr an sich halten. Dann lagen sie in ihren eigenen Exkrementen und warteten ab, bis alles verkrustet war, erst dann rührten sie sich wieder. Die psychologische Bedeutung der Reinlichkeit war offensichtlich. Nach sieben Tagen dort unten konnte ein Mensch verrückt werden. Leo tröstete sich damit, dass die Situation vorübergehen würde. Seine Hauptsorge war, nicht seine Spannkraft zu verlieren. Viele der Gefangenen waren durch die monatelange Überführung geschwächt. Ihre Muskeln waren weich geworden durch die Untätigkeit und das schlechte Essen, ihr Kopf durch die Vorstellung, jahrzehntelang in den Bergwerken arbeiten zu müssen. Leo machte regelmäßig Turnübungen, so hielt er seinen Körper stramm und seinen Geist konzentriert auf die Aufgabe, die vor ihm lag.
Nach seiner Begegnung mit Frajera in dem ausgebaggerten Loch, wo einst die Kirche der Heiligen Sophia gestanden hatte, war Leo ins Krankenhaus zurückgekehrt und hatte erfahren, dass Raisa die Operation überlebt hatte. Die Ärzte waren zuversichtlich, dass sie wieder vollkommen gesund werden würde.
Als Raisa aufgewacht war, hatte sie sich sofort nach Soja und Elena erkundigt. Leo, der sah, wie blass und schwach sie war, hatte versprochen, dass er sich
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