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Kolyma

Kolyma

Titel: Kolyma Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Rob Smith
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unter langen Mänteln versteckt. Genrich war nie wirklich klar geworden, warum sie sich solche Mühe gaben, um ihre wahre Mission vor den Blicken japanischer Fischer geheim zu halten. Manchmal fragte er sich, ob es wohl in Japan auch solche Gefangenenschiffe mit Leuten wie ihm darauf gab.
    Genrich montierte das Maschinengewehr wieder zusammen. Anstatt es nach draußen zu richten, richtete er den Lauf nach unten, in Richtung der verstärkten Bodenluke, die hinunter in den Laderaum führte. In der Dunkelheit unter Deck war eine Ladung von fünfhundert Männern zusammengepfercht, sie hockten so eng auf ihren Bänken wie die Streichhölzer in einer Schachtel. Es war der erste Gefangenentransport des Jahres, vom Durchgangslager Buchta Nachodka an der südlichen Pazifikküste bis nach Kolyma im Norden. Beide Häfen lagen zwar an derselben Küste, doch die Entfernung zwischen ihnen war riesig. Es gab keine Möglichkeit, Kolyma über Land zu erreichen, man gelangte nur mit dem Flugzeug oder dem Schiff dorthin. Der nördliche Hafen von Magadan diente als Zugang zu einem Netz von Arbeitslagern, die wie Pilzsporen an der Landstraße von Kolyma hinauf in die Berge, Wälder und Minen klebten.
    Fünfhundert Gefangene war die kleinste Charge, die Genrich je bewacht hatte. Unter Stalin hätte das Schiff um diese Zeit im Jahr viermal so viele Leute transportiert, um den Stau in den Durchgangslagern abzubauen, der sich über den Winter gebildet hatte.
    Die Sek-Züge mit ihren Waggons voller Gefangener kamen weiter an, während die Schiffe angedockt blieben. Nur wenn die Eisschollen schmolzen, war das Ochotskische Meer befahrbar. Im Oktober fror es schon wieder zu, und eine Fahrt zum falschen Zeitpunkt konnte bedeuten, dass man vom Eis eingeschlossen wurde. Genrich hatte schon von Schiffen gehört, die sich zu spät im Winter oder zu früh im Frühjahr aufgemacht hatten. Weil man weder umkehren noch das Ziel erreichen konnte, waren die Wachen über das Eis geflohen und hatten dabei Schlitten mit Dosenfleisch und Brot hinter sich hergezogen. Die zurückgelassenen Gefangenen hatte man dagegen im Laderaum dem Tod durch Verhungern oder Erfrieren überlassen, was immer als Erstes eintreten mochte.
    Mittlerweile ließ man die Gefangenen weder verhungern oder erfrieren, noch brachte man sie reihenweise um und warf die Leichen über Bord. Genrich hatte Chruschtschows Geheime Rede, in der er Stalin und die Exzesse in den Gulags angeprangert hatte, nicht gelesen. Er hatte zu viel Angst gehabt. Es gab Gerüchte, dass es sich dabei nur um ein Täuschungsmanöver handelte, um Konterrevolutionäre ausfindig zu machen. Vielleicht ließen sich Leute dazu verleiten, leichtsinnig zu werden und in die Kritik einzufallen, nur um dann prompt verhaftet zu werden. Aber Genrich glaubte nicht, dass das stimmte, dazu kamen ihm die Veränderungen zu echt vor. Das ganze System war im Schockzustand. Die althergebrachte Praxis von Brutalität und Gleichgültigkeit, ohne dass man jemanden dafür zur Rechenschaft gezogen hätte, war einem konfusen Mitleid gewichen.
    Im Durchgangslager überprüfte man hektisch die Urteile der Gefangenen. Tausende, die für Kolyma vorgesehen gewesen waren, begnadigte man plötzlich wieder und schickte sie genauso abrupt in die Freiheit, wie man sie dieser entrissen hatte. Während man die meisten Frauen schon 1953 amnestiert und freigelassen hatte, saßen nun also diese freien Männer hilflos an der Küste. Jeder hielt ein Pfund schwarzen Roggenbrots umklammert, ihre Freiheitsration, mit der sie auskommen sollten, bis sie wieder zu Hause waren. Für die meisten lag das viele tausend Kilometer weit weg. Ohne jeglichen Besitz, ohne Geld, nur in ihren Lumpen und mit ihrem Freiheitsbrot starrten sie hinaus aufs Meer und konnten nicht fassen, dass sie einfach weglaufen durften, ohne erschossen zu werden.
    Wie störende Vögel hatte Genrich sie von der Küste weggescheucht und ihnen geraten, endlich die Reise nach Hause anzutreten. Wie diese Reise möglich sein sollte, hatte er ihnen nicht sagen können.
    Wochenlang wurden Genrichs Vorgesetzte von der Angst zerfressen, dass man sie vor ein Strafgericht stellen werde. In dem Versuch zu demonstrieren, wie sehr sie sich geändert hatten, unterzogen sie die Dienstvorschriften einer umfangreichen Revision - verzweifelte Signale nach Moskau, dass sie mit den neumodischen Anstandsregeln im Einklang waren. Genrich zog derweil nur den Kopf ein und machte, was man ihm befahl. Weder stellte er etwas

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