Kolyma
wenigstens gelegentlich mitgemacht. Er jedoch bekam nie mehr die Gelegenheit, seinen Fehler wiedergutzumachen. Sein damaliger Affront stand bis heute zwischen ihm und den anderen, denn er war ja nicht etwa Ausdruck einer momentanen Befindlichkeit gewesen: Heute ist mir nicht danach, sondern aus tiefstem Herzen gekommen: Das macht man nicht! Manchmal lief Genrich nachts an Deck auf und ab und sehnte sich nach jemandem, mit dem er sprechen konnte. Aber wenn er sich dann umwandte, standen die anderen Wärter weitab von ihm beisammen. Alles, was er in der Dunkelheit von ihnen sehen konnte, waren ihre glimmenden Zigaretten, deren rote Spitzen ihn anfunkelten wie hasserfüllte Augen.
Mittlerweile machte er sich keine Sorgen mehr darüber, dass die See sein Schiff verschlucken oder das Eis den Rumpf aufreißen könnte. Das wäre beinahe eine Erleichterung gewesen. Stattdessen ließ ihn die Angst nicht los, dass er sich eines Nachts schlafen legen würde, nur um irgendwann davon aufzuwachen, dass die anderen Wärter ihn an Armen und Beinen gepackt hatten und wegzerrten, so wie man diese Frauen wegzerrte, dass er dagegen ankämpfte und schrie, aber trotzdem über Bord geworfen wurde, in die schwarze, eiskalte See. Da würde er noch eine oder zwei Minuten hilflos herumpaddeln und zusehen, wie die Lichter des Schiffs kleiner wurden.
Doch jetzt machte ihm diese Angst nicht mehr zu schaffen, zum ersten Mal nach sieben Jahren. Die gesamte Wachmannschaft des Schiffes war ausgetauscht worden. Vielleicht hatte ihre Auswechslung ja etwas mit den Reformen zu tun, die die Lager neuerdings auf den Kopf stellten. Er wusste es nicht, es spielte auch keine Rolle. Hauptsache, sie waren alle weg, alle außer ihm. Ihn hatte man dabehalten und von der Schicksalswendung der anderen ausgespart. Und diesmal hatte er nicht das Geringste dagegen, ausgeschlossen zu sein. Er war jetzt Teil einer neuen Wachmannschaft, von der keiner ihn hasste, keiner irgendetwas über ihn wusste. Er war wieder ein Fremder, und diese Anonymität war ein wundervolles Gefühl, beinahe so, als sei er von einer tödlichen Krankheit genesen. Jetzt, wo er die Chance hatte, von vorne anzufangen, wollte er alles tun, was er nur konnte, um auf jeden Fall zu dieser Mannschaft zu gehören.
Er wandte sich um und sah, dass auf der anderen Seite des Decks einer der neuen Wärter rauchte. Vermutlich hatte ihn der Lärm der Kollision nach draußen gelockt. Es war ein großer, breitschultriger Mann Ende dreißig, der die Ausstrahlung eines Anführers besaß. Jakow Messing, so hieß er, hatte während der Überfahrt kaum etwas gesagt. Kein Wort hatte er über sich selbst preisgegeben, und Genrich wusste immer noch nicht, ob Jakow an Bord bleiben würde oder ob er nur unterwegs zu einem neuen Lager war. Im Umgang mit den Häftlingen war er rigoros und den anderen Wärtern gegenüber zugeknöpft, außerdem war er ein brillanter Kartenspieler und bärenstark. Falls sich auf dem Schiff wieder eine neue Clique bilden würde wie vorher, dann bestand wenig Zweifel, dass sie sich um Jakow scharen würde.
Genrich überquerte das Deck, grüßte Jakow mit einem Kopfnicken und deutete auf sein Päckchen billiger Zigaretten.
»Darf ich?«
Jakow hielt ihm das Päckchen und ein Feuerzeug hin. Nervös nahm sich Genrich eine Zigarette, zündete sie an und inhalierte tief. Der Rauch kratzte in seinem Rachen. Er rauchte nur selten und tat sein Bestes, um den Anschein zu erwecken, er habe Spaß an diesem geteilten Vergnügen. Es war jetzt unheimlich wichtig, dass er einen guten Eindruck hinterließ. Allerdings wusste er nichts zu sagen. Jakow war schon fast mit seiner Zigarette fertig, bald würde er wieder hineingehen. So eine Gelegenheit, wo sie beide allein waren, kam vielleicht nicht noch einmal. Genrich musste also jetzt mit ihm reden. »Es war ja bisher eine ruhige Fahrt.«
Jakow schwieg. Genrich schnippte seine Asche ins Meer und redete weiter.
»Ist das dein erstes Mal? An Bord, meine ich? Dass du noch nie auf diesem Schiff warst, weiß ich, aber ich habe mich gefragt, ob du vielleicht schon mal ... auf anderen Schiffen warst. So welchen wie diesem.«
Jakow antwortete mit einer Gegenfrage. »Wie lange bist du schon hier an Bord?«
Genrich lächelte, er war erleichtert, dass er eine Antwort aus ihm herausbekommen hatte. »Sieben Jahre. Und jetzt haben sich die Dinge geändert. Ob wirklich zum Besseren, weiß ich nicht. Auf diesen Überfahrten war früher schon was los...«
»Wie meinst du
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