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Kolyma

Kolyma

Titel: Kolyma Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Rob Smith
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hatte angedeutet, dass einige bedeutende Leute ihr Vorhaben unterstützten, und handelte mit stillschweigender Einwilligung der Machthabenden.
    Lasar war Häftling im Gulag 57 in der Region Kolyma. Flucht galt als unmöglich, niemand hatte es je geschafft. In vielen Gulags bestanden die Sicherheitsvorkehrungen im Wesentlichen aus der Lage, der Abgeschiedenheit des Orts. Außerhalb des Lagers gab es keine Möglichkeit zu überleben. Die Chancen, das riesige und erbarmungslose Gebiet zu durchqueren, waren minimal. Wenn Lasar verschwand, konnte man ihn getrost für tot erklären. Mit Panins Hilfe war es ein einfaches Unterfangen, in einen Gulag zu kommen. Sie mussten nur die entsprechenden Papiere fälschen und Leo als Sträfling ausgeben. Wieder herauszukommen würde weniger einfach sein.
    Leo wurde aus seinen Gedanken gerüttelt. Der Schiffsrumpf vibrierte, und der Bug brach aus. Leo fuhr hoch. Sie hatten Eis gerammt.

    Am selben Tag

    Genrich rannte nach vorn und schaute angestrengt über die Reling. Langsam zog ein Eisberg vorbei. Die Spitze war nicht größer als ein Auto, der größte Teil schwamm unter Wasser, ein riesiger dunkelblauer Schatten. Auf den ersten Blick schien der Rumpf unbeschädigt zu sein. Von den Gefangenen unter Deck war auch kein Schreien zu hören, es brach also kein Wasser herein. Genrich spürte den Schweiß unter seinem Rentierfell. Er signalisierte dem Kapitän, dass die Gefahr vorüber war.
    Auf den ersten Fahrten im Jahr rammte der Schiffsbug gelegentlich Reste des Eisschelfs, was dem betagten Rumpf unheilvolles Getöse entlockte. Früher hatten solche Kollisionen Genrich jedes Mal in Angst versetzt. Die Stary Bolschewik war ein altersschwacher Kahn, der kaum in der Lage war, sich durchs Wasser zu pflügen, geschweige denn Eis wegzuschieben. Als Handelsschiff taugte er nicht mehr, nur noch für Gefangene. Ursprünglich war der Kohlendampfer für eine Geschwindigkeit von elf Knoten ausgelegt gewesen, doch er schaffte selten mehr als acht und keuchte dabei wie ein lahmes Maultier. Im Lauf der Jahre war der Rauch, der aus dem einzigen Schornstein am Heck kam, immer dicker und schwärzer geworden. Das Schiff fuhr langsamer, ächzte dafür aber umso lauter. Doch obwohl es immer anfälliger geworden war, hatte Genrich allmählich seine Angst vor der See verloren. Er konnte bei Sturm durchschlafen und sein Essen sogar bei sich behalten, wenn Teller und Bestecke von einer Seite zur anderen rutschten. Nicht, dass er etwa mutig geworden wäre. Aber eine andere Angst hatte von ihm Besitz ergriffen - die vor den übrigen Wärtern.
    Auf seiner ersten Fahrt hatte er einen Fehler begangen, den er nie wieder hatte ausbügeln können und den seine Kameraden ihm nie vergeben hatten. Unter Stalin hatten die Wärter oft gemeinsame Sache mit den urki gemacht, den Berufsverbrechern. Die Wärter sorgten dafür, dass eine oder zwei weibliche Gefangene in den Laderaum der Männer verlegt wurden. Manchmal erkaufte man sich die Zustimmung der Frauen durch falsche Essensversprechungen, manchmal wurden sie betäubt. Gelegentlich wurden sie auch einfach nur hinuntergezerrt, aller Gegenwehr und allem Geschrei zum Trotz. Das hing von den jeweiligen Vorlieben der urki ab, denn manchen machte das Niederringen einer sich zur Wehr setzenden Frau mindestens so viel Spaß wie der Sex selbst. Die Gegenleistung für solche Transaktionen waren Informationen über die Politischen, jene Gefangenen also, die man für Verbrechen gegen den Staat verurteilt hatte. Aus den Berichten über Gesagtes, über mitangehörte Gespräche konnten die Wärter, sobald das Schiff angelegt hatte, wertvolle Denunziationen fabrizieren. Als kleinen Bonus vergingen sich am Ende auch die Wachleute noch an den bewusstlosen Frauen und untermauerten damit ein Bündnis, das so alt war wie die Gulags selbst. Dämlicherweise hatte Genrich das Angebot höflich abgelehnt. Er hatte nicht damit gedroht, die anderen zu verraten. Er hatte keine Missbilligung an den Tag gelegt. Er hatte lediglich höflich bekundet:

    Ich will das nicht.

    Diese Worte bereute er mittlerweile mehr als alles, was er je getan hatte. Von diesem Moment an hatte man ihn ausgestoßen. Er hatte gedacht, das würde vielleicht eine Woche dauern. Es ging nun aber schon sieben Jahre so. Manchmal, wenn er an Bord festgesessen hatte, um sich herum nichts als Meer, war er fast verrückt geworden vor Einsamkeit. Nicht alle Wärter hatten bei jeder Vergewaltigung mitgemacht, aber alle hatten

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