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Kolyma

Kolyma

Titel: Kolyma Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Rob Smith
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mit dir verhandeln. Niemals werden sie Lasar gehen lassen.«
    »Dann musst du dir etwas anderes überlegen, um ihn freizubekommen.«
    »Bitte, Frajera! Wenn du mich vor einer Woche gefragt hättest, hätte man vielleicht noch etwas deichseln können. Aber nach dem, was du getan hast, ist das unmöglich. Hör mich an: Für Soja würde ich alles tun, alles, was in meiner Macht steht. Aber Lasar kann ich nicht freibekommen.«
    Frajera lehnte sich zu ihm vor und flüsterte: »Vergiss nicht, ich kann dich berühren, aber du darfst mich nicht berühren.«
    Kaum war die Warnung ausgesprochen, küsste sie ihn auf die Wange. Zuerst zärtlich, doch dann gruben sich ihre Zähne in seine Haut, immer fester biss sie zu, bis sein Blut floss. Der Schmerz war schlimm. Leo hätte sie gern weggestoßen, aber wenn er sie berührte, würde man ihn töten. Es blieb ihm nichts übrig, als den Schmerz zu ertragen. Endlich ließ sie los, trat zurück und bewunderte ihr Bissmal.
    »Jetzt hast du deine erste Tätowierung, Maxim.«
    Noch mit seinem Blut auf ihren Lippen schloss sie: »Befreie meinen Mann, Maxim, sonst ermorde ich deine Tochter.«

Drei Wochen danach

    Westlicher Pazifik
    Sowjetische Hoheitsgewässer, Ochotskisches Meer,
    Gefangenenschiff Stary Bolschewik

    7. April 1956

    Der Offizier Genrich Duwakin stand an Deck und zog sich mit den Zähnen die derben Handschuhe aus. Seine Finger waren vor Eiseskälte ganz taub, er spürte sie kaum noch. Er hauchte sie an, rieb die Hände aneinander und versuchte, seinen Blutkreislauf wieder in Gang zu bringen. Sein Gesicht fühlte sich im beißend kalten Wind wie tot an, die Lippen waren blutleer und blau. Die hervorstehenden Nasenhaare waren gefroren, und wenn er die Nasenlöcher zusammenkniff, brachen sie ab wie Miniatur-Eiszapfen.
    Solche geringfügigen Unannehmlichkeiten konnte er ertragen, denn seine Mütze war ein wahres Wunder an Wärme, gefüttert mit Rentierfell und zusammengenäht von Leuten, die sich vorstellen konnten, dass das Leben desjenigen, der sie tragen würde, möglicherweise von der Qualität ihrer Arbeit abhing. Drei lange Klappen bedeckten seine Ohren und den Nacken. Die Ohrenklappen, die unter dem Kinn zusammengebunden waren, ließen Duwakin aussehen wie ein Kind, das man gegen die Kälte eingepackt hatte - ein Eindruck, der durch seine weichen, knabenhaften Züge noch verstärkt wurde. Bislang hatte die peitschende Salzluft seiner samtigen Haut nichts anhaben können, und seine Pausbacken hatten der schlechten Kost ebenso widerstanden wie dem Schlafmangel. Er war siebenundzwanzig Jahre alt, wurde aber oft für jünger gehalten, eine körperliche Unreife, die ihm nicht eben half. Anstatt wild und Furcht einflößend zu sein, wie es sich gehörte, war er ein tollpatschiger, unbeholfener Tagträumer - nicht gerade das, was man sich unter einem Wärter auf einem so berüchtigten Gefangenenschiff wie der Stary Bolschewik vorstellte.
    Die Stary Bolschewik hatte etwa die Größe einer Handelsbarkasse und war ein unverwüstliches Schiff. Einst war sie ein sturmerprobter holländischer Dampfer gewesen, in den dreißiger Jahren hatte man sie dann gekauft, umbenannt und für die Belange der sowjetischen Geheimpolizei umgerüstet.
    Ursprünglich war die Stary Bolschewik für den Import kolonialer Waren gebaut worden, Elfenbein, scharfe Gewürze und exotische Früchte. Mittlerweile beförderte sie Männer in die tödlichsten Arbeitslager im gesamten Gulag-System. Am Bug ragte vier Stockwerke hoch der Schiffsturm auf, der auch die Quartiere für die Wärter und die Mannschaft beherbergte. Oben im Turm befand sich die Brücke, wo der Kapitän und die Mannschaft das Schiff navigierten - eine verschworene Gemeinschaft, die mit den Gefangenenwärtern nichts gemein hatte und vor der Aufgabe des Schiffes bewusst die Augen verschloss, so als hätte man damit nichts zu tun.
    Der Kapitän öffnete die Luke, ging von der Brücke und ließ den Blick schweifen über den Meeresabschnitt, den sie gerade hinter sich ließen. Er gestikulierte zu Genrich an Deck hinüber, nickte ihm zu und rief: »Alles klar!«
    Sie hatten bereits die Perouse-Straße passiert, den einzigen Punkt auf ihrer Reise, wo sie sich den japanischen Inseln genähert und internationalen Kontakt riskiert hatten. Man hatte Vorkehrungen getroffen, damit das Schiff nicht anders aussah als ein ganz normaler, ziviler Handelsfrachter. Das schwere Maschinengewehr, das mitten auf Deck montiert war, hatte man abgebaut, die Uniformen

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