Kolyma
das?«
»Na ja ... wir hatten ... eine Menge Spaß. Du weißt schon, was ich meine.«
Genrich grinste, um seine versteckte Anspielung zu unterstreichen. Jakows Gesicht blieb teilnahmslos.
»Nein«, antwortete Jakow. »Was meinst du?«
Jetzt musste Genrich erklären. Er senkte die Stimme und versuchte Jakow mit einem verschwörerisch flüsternden Ton zu schmeicheln. »Normalerweise haben die Wärter am zweiten oder dritten Tag ...«
»Die Wärter? Du bist doch selbst einer.«
Ein unachtsamer Ausrutscher. Das hörte sich an, als ob Genrich nicht dazugehört hatte, und jetzt wollte der andere wissen, ob das stimmte. Genrich stellte die Sache klar. »Ich meine, ich. Wir. Also, wir alle.«
Er betonte das Wort »wir« und wiederholte es zur Sicherheit noch einmal.
»Also, wir quatschen die urki an, um zu sehen, ob sie uns was anbieten wollen. Eine Liste von Namen, eine Liste von Politischen, von Leuten, die was Dummes gesagt haben. Wir fragen sie, was sie dafür haben wollen: Alkohol,Tabak ... Frauen?«
»Frauen?«
»Hast du schon mal von der Eisenbahnfahrt gehört?«
»Hilf mir auf die Sprünge.«
»In den guten alten Zeiten haben die Männer sich hintereinander aufgereiht, bis sie bei den weiblichen Gefangenen an der Reihe waren. Ich war immer der letzte Waggon, sozusagen. Du weißt schon, von der Eisenbahn ... von den Männern, die nacheinander drankamen, war ich immer der Letzte.«
Er lachte. »Aber besser als gar nichts, sage ich mir immer.«
Die Hände in die Hüften gestemmt, hielt er inne und schaute hinaus aufs Meer. Gern hätte er jetzt Jakows Reaktion gesehen. Nervös wiederholte er: »Besser als gar nichts.«
Aus den Augenwinkeln studierte Timur Nesterow im fahlen Licht der Abenddämmerung das Gesicht des jungen Mannes, der da mit seinen Vergewaltigungsgeschichten angab. Der Bursche wollte, dass man ihm auf die Schulter klopfte, ihm gratulierte und versicherte, dass die guten alten Zeiten einfach besser gewesen waren. Timurs Tarnung als Beamter und Gefängniswärter Jakow Messing hing entscheidend davon ab, dass er nicht auffiel. Er durfte sich nicht bemerkbar machen, durfte keinen Staub aufwirbeln. Er war nicht hier, um über diesen Mann zu urteilen oder die Frauen zu rächen. Trotzdem fiel es ihm schwer, sich nicht seine eigene Frau als Gefangene an Bord dieses Schiffes vorzustellen. Einmal war sie ganz nahe dran gewesen, verhaftet zu werden. Sie war wunderschön, und dann wäre sie den Gelüsten dieses jungen Kerls auf Gedeih und Verderb ausgeliefert gewesen.
Timur warf seine Zigarette ins Meer und ging zum Eingang. Er war schon fast drinnen, als der Wärter ihm hinterherrief: »Danke für die Zigarette.«
Timur blieb stehen und fragte sich, wie er diese Mischung aus guten Manieren und gedankenloser Grausamkeit einordnen sollte. Genrich kam ihm eigentlich eher wie ein Kind als wie ein Mann vor. Und wie ein Kind vielleicht versucht hätte, einen Erwachsenen zu beeindrucken, deutete der junge Beamte jetzt zum Himmel. »Sieht nach Sturm aus.«
Es wurde Nacht, und in der Ferne erleuchteten Blitze schwarze Wolken, die aussahen wie die Knöchel einer riesigen Faust.
Am selben Tag
Leo lag in der Finsternis auf dem Rücken und lauschte dem kräftigen Regen, der auf das Deck trommelte. Das Schiff hatte begonnen zu schwanken, zu schlingern und zu rollen und von einer Seite zur anderen zu schaukeln. Er malte es sich im Kopf aus und überlegte, ob es einen solchen Sturm überstehen würde.
Das Schiff war gedrungen wie ein riesiger Stahldaumen, breit, langsam und stabil. Außer dem Schornstein war das Einzige, was sich vom Deck erhob, der Turm, auf dem sich die Quartiere der Wärter und der Mannschaft befanden. Das Alter des Schiffes flößte Leo Zuversicht ein. Es musste schon viele Stürme überstanden haben.
Seine Koje schwankte, als ein Brecher gegen die Seite schlug und über das Deck rollte - ein klatschendes Geräusch, dessen Bild man sofort vor Augen hatte: wie das Deck für einen Moment eins mit dem Meer wurde. Leo setzte sich auf. Das Schiff torkelte heftig, und er musste sich mit beiden Händen an den Kojenrahmen klammern. Einige Gefangene fingen an zu schreien, als sie aus ihren Lagern geschleudert wurden - Schreie, die in der Dunkelheit widerhallten. Mittlerweile war es von Nachteil, so hoch oben zu liegen. Der Holzrahmen war instabil und nicht mit der Bordwand verschraubt. Die Stockbetten würden vielleicht umstürzen und die darin Liegenden auf den Boden kippen. Leo wollte schon
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