Kolyma
wegzurennen, dann schneide ich dir die Kehle durch. Wenn du meine Hand auch nur loslässt, um dir in der Nase zu bohren ...«
Soja, die froh war, dass sie wenigstens den Namen ihres heimlichen Bewunderers kannte, beendete den Satz für ihn: »... dann schneidest du mir die Kehle durch?«
Malysch legte den Kopf schief und musterte sie misstrauisch. Bestimmt fragte er sich gerade, ob sie sich über ihn lustig machte. Um ihn zu beruhigen, streckte sie den Arm aus und nahm seine Hand.
Pazifikküste
Kolyma, Hafen von Magadan,
Gefängnisschiff Stary Bolschewik
Am selben Tag
Leitern und Treppen waren die einzigen Stellen, die noch über Wasser lagen, und dementsprechend übersät mit Gefangenen. Zusammengedrängt hockten sie wie die Krähen auf einer Hochspannungsleitung. Die weniger Glücklichen kauerten dicht an dicht auf den zusammengebrochenen Etagenbetten, sie hatten die zerborstenen Balken übereinandergeschichtet und daraus eine Art hölzerner Rettungsinsel gebaut, um die das eiskalte Wasser schwappte. Die Leichen der Getöteten hatten sie beiseitegeräumt, jetzt trieben sie auf der Oberfläche. Leo gehörte zu den wenigen Privilegierten hoch über dem Wasser, er hockte auf der Stahlleiter, die hinauf zu der von Kugeln durchsiebten und mit Stofffetzen gestopften Luke führte.
Nachdem er die Löcher in der Luke verschlossen hatte, hatte Leo die Dampfmaschine am Laufen halten müssen. Seine Brust und sein Gesicht waren fast von der Glut geröstet worden, während gleichzeitig seine knietief im Wasser stehenden Beine immer gefühlloser vor Kälte geworden waren. Sein Körper war in zwei Gefühlswelten geteilt. Mittlerweile zitterte er vor Erschöpfung und konnte kaum mehr die Schaufel anheben. Keiner hatte ihm geholfen. Wie Höhlenkreaturen hatten die anderen Gefangenen in der feuchten Dunkelheit gehockt, dumpf und bewegungslos. Wenn einem lebenslange Zwangsarbeit bevorstand, warum dann noch einen zusätzlichen Tag draufpacken? Und spätestens, wenn die Maschine ausging, das Schiff nicht mehr manövrierfähig war und aufs offene Meer hinaustrieb, würden die Wärter sich dem Problem schon widmen. Sollten die doch selbst ihre Kohle schippen. Die Männer würden nicht auch noch dabei mithelfen, dass man sie ins Gefängnis brachte. Leo brachte nicht die Kraft auf, sie von den Gefahren zu überzeugen, wenn sie einfach tatenlos blieben. Ihm war klar, dass die Wärter nach der versuchten Revolte erst mal drauflosschießen würden, wenn sie gezwungen waren, in den Frachtraum hinabzusteigen. Einfach nur, um sicherzugehen.
Leo hatte allein weitergemacht, solange er konnte. Erst als er eine ganze Ladung Kohle weggeschippt hatte und ihm die Schaufel aus den Händen glitt, tauchte schließlich aus dem Halbdunkel ein anderer Mann auf und übernahm seinen Posten. Leo hatte einen unhörbaren Dank gemurmelt und war auf die Leiter gestiegen, die Gefangenen machten ihm Platz. Auf der obersten Sprosse sackte er in sich zusammen. Wenn man es Schlaf nennen konnte, dann schlief er - zitternd und halb verrückt vor Durst und Hunger.
* * *
Leo machte die Augen auf. An Deck waren Leute, er konnte über sich Schritte hören. Das Schiff war stehen geblieben. Als er sich zu bewegen versuchte, merkte er, dass sein ganzer Körper steif war, seine Gliedmaßen waren in Fötushaltung erstarrt. Er bewegte die Finger, dann den Hals, alle Gelenke knackten. Die Luke wurde aufgeworfen. Leo sah nach oben und blinzelte ins helle Licht. Der Himmel war so gleißend hell wie geschmolzenes Metall. Als seine Augen sich langsam an das Licht gewöhnt hatten, erkannte er, dass es eigentlich ein mattes Grau war.
Um ihn herum tauchten Wärter auf und zielten mit Maschinengewehren hinunter. Ein Mann rief in den Lagerraum hinab: »Wenn ihr auch nur das Geringste versucht, versenken wir das Schiff, und ihr seid alle eingesperrt.«
Die Sträflinge konnten sich kaum noch rühren, geschweige denn die Autorität der Wärter ernsthaft gefährden. Kein Wort des Dankes, dass sie die Maschine am Laufen gehalten hatten, keine Anerkennung, dass sie das Schiff gerettet hatten, nur die Mündung eines Maschinengewehrs.
Eine zweiter Mann rief: »An Deck! Sofort!«
Leo erkannte ihn. Es war Timur. Die Stimme seines Freundes erweckte ihn wieder zum Leben. Ganz langsam setzte er sich auf. Wie eine knarrende Marionette, an deren Fäden man zog, rappelte er sich hoch und kletterte von der Leiter an Deck.
Der zerbeulte Dampfer lag mit Schlagseite im Hafen. Die
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