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Kolyma

Kolyma

Titel: Kolyma Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Rob Smith
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so wie man an einem ausgelutschten Bonbon saugt. Wofür lebte sie überhaupt? Sie träumte nicht davon, gerettet zu werden. Der Gedanke an Freiheit trieb ihr keine Freudentränen in die Augen. Freiheit, das war das Leben eines unbeliebten, unglücklichen Schulmädchens gewesen, verhasst und auch hassenswert. In der Gefangenschaft verspürte sie keine größere Einsamkeit als vorher in Leos Wohnung. Und sie kam sich auch nicht eingesperrter vor. Nur die Umgebung war eine andere, das Leben aber war dasselbe geblieben. Sie weinte nicht bei dem Gedanken an ihr Kinderzimmer oder wie die Familie am Tisch gesessen und eine warme Mahlzeit zu sich genommen hatte. Sie weinte noch nicht einmal beim Gedanken an ihre Schwester. Vielleicht würde Elena ohne sie sogar glücklicher sein, vielleicht hielt Soja ihre kleine Schwester nur davon ab, ein normales Leben zu führen und Leo und Raisa in ihr Herz zu schließen.

    Warum kann ich nicht weinen?

    Sie kniff sich ganz fest, aber es nützte nichts. Soja konnte einfach nicht weinen.
    Sie hoffte nur, dass Raisa den Sturz überleben würde. Und sie hoffte, dass Elena in Sicherheit war. Und doch fühlten sich diese Hoffnungen, so ehrlich sie auch waren, irgendwie so an, als hätten sie mit ihr selbst gar nichts zu tun, als seien es nicht eigene Herzensempfindungen, sondern nur das, was andere von ihr erwarteten. Das entscheidende Zahnrädchen, das ihre Gefühle mit ihren Erfahrungen hätte in Verbindung bringen können, fehlte ihr einfach. Sie hätte Angst haben müssen. Aber sie hatte nur das Gefühl, in einer lauwarmen Soße aus Resignation zu treiben. Wenn diese Leute sie umbringen wollten - bitte sehr. Wenn sie sie freiließen - auch gut. Sie war nicht tapfer, ihr war nur alles gleichgültig.

    Der Lastwagen bog von der Straße ab und rumpelte jetzt über einen Feldweg. Nach einiger Zeit wurde er langsamer, fuhr noch um ein paar Kurven und hielt schließlich an. Vorne wurden die Türen geöffnet und wieder zugeschlagen. Schritte knirschten über die Erde, sie kamen nach hinten. Die Plane wurde hochgeworfen. Wie eine Ladung hob man Soja hoch und stellte sie auf die Füße. Sie konnte kaum stehen, weil sie wegen des in die Fußgelenke schneidenden Fesseldrahtes aus dem Gleichgewicht kam. Sie stand auf bloßer Erde und Steinen. Von der Fahrt war ihr ganz schwindelig, vielleicht würde sie sich übergeben müssen. Aber sie wollte nicht, dass ihre Häscher sie für einen Schwächling und einen Angsthasen hielten. Jetzt nahmen sie ihr den Knebel ab, und sie atmete tief durch. Ein Mann fing an zu lachen, langsam, herzhaft und süffisant. Inzwischen wurde ihr der Draht von den Fußgelenken gewickelt und die Augenbinde entfernt.
    Soja musste so heftig blinzeln, als starre sie direkt ins Sonnenlicht. Wie ein unterirdischer Dämon, den man außerhalb seiner Höhle erwischt hatte, wandte sie sich vom Himmel ab. Nur langsam gewöhnten sich ihre Augen ans Licht, und sie konnte ihre Umgebung erkennen. Sie stand auf einem Feldweg, vor ihr neben dem Lastwagen wuchsen hier und da kleine weiße Blumen, wie Pfützen vergossener Milch. Als sie aufblickte, sah sie ringsherum Wald. Ihre Augen, die an keinerlei Reize mehr gewöhnt waren, verhielten sich wie ein ausgetrockneter Schwamm, den man ins Wasser wirft - jeden Farbtupfer vor ihr sogen sie auf.
    Dann fielen Soja ihre Häscher wieder ein, und sie drehte sich um. Es waren zwei, einer der beiden war ein vierschrötiger Kerl mit massigen Armen, einem Stiernacken und einem enormen, muskelbepackten Oberkörper. Alles an ihm war kräftig und gedrungen, so als sei er in einer zu kleinen Schachtel aufgewachsen. Der andere war das genaue Gegenteil, ein Junge in ihrem Alter, vielleicht dreizehn oder vierzehn Jahre alt. Er war schlank und sehnig, sein Blick durchtrieben. Er musterte sie mit unverhohlener Verachtung, als sei sie seiner nicht würdig, als sei er ein Erwachsener und sie nur ein kleines Mädchen. Sie konnte ihn nicht ausstehen.
    Der Vierschrötige wies zu den Bäumen hin. »Lauf ein bisschen herum. Vertritt dir die Beine. Frajera will nicht, dass du schlappmachst.«
    Frajera - den Namen hatte sie schon gehört. Wenn die wory betrunken und in Feierlaune gewesen waren, hatte sie ein paar Gesprächsfetzen aufgeschnappt. Frajera war die Anführerin. Soja war ihr nur einmal begegnet. Da war die Frau in ihre Zelle gerauscht. Sie hatte sich nicht vorgestellt, aber das war auch nicht nötig gewesen. Die Macht umgab sie wie ein Umhang. Die Schlägertypen,

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