Kolyma
Suche nach irgendetwas, womit sie sich verteidigen konnte. Sie brach einen kleinen Ast ab und befühlte mit der Fingerkuppe die Spitze. Das musste reichen. Sie warf einen flüchtigen Blick auf den Jungen, der in der Nähe des Lastwagens faulenzte. Der Mann folgte ihrem Blick und drehte sich zu dem Jungen um. »Sie glaubt, du rettest sie.«
Mit aller Kraft schwang Soja den Ast und hieb das schartige Ende in das Gesicht des Mannes. Sie erwartete Blut zu sehen, aber der Ast brach lediglich entzwei und zerkrümelte in ihrer Hand. Der Mann zwinkerte überrascht und starrte auf ihre Hand und die Reste des Astes darin. Als er kapierte, was passiert war, lachte er wieder.
Soja sprang vor. Der Mann stürzte sich auf sie, aber sie duckte sich vor ihm weg. So schnell sie konnte, rannte sie in Richtung des Lasters. Sie spürte, dass der Mann dicht hinter ihr war. Und bestimmt würde der Junge ihr den Weg abschneiden, aber sie konnte ihn nicht sehen. Sie riss die Beifahrertür des Führerhauses auf und warf sich hinein. Ihr Verfolger war nur wenige Meter hinter ihr. Jetzt grinste er nicht mehr. Soja zog am Griff und schlug scheppernd die Tür zu, und im nächsten Moment krachte er auch schon dagegen. Sie drückte den Knopf herunter und hoffte, dass er die Schlüssel nicht hatte. Er hatte sie nicht - sie steckten im Zündschloss. Soja krabbelte hinüber zum Fahrersitz und drehte den Zündschlüssel. Stotternd erwachte der Motor zum Leben.
Ohne ganz genau zu wissen, was sie eigentlich machen musste, nahm sie den Schalthebel in die Hand und drückte ihn knirschend nach vorn. Metallisches Schrammen - sonst schien nichts zu passieren. Der Mann hatte sich das Hemd ausgezogen und um seine Faust gewickelt. Er holte aus und schlug das Seitenfenster ein, Glasscherben regneten ins Führerhaus. Da Soja das Gaspedal nicht erreichen konnte, rutschte sie vom Sitz und drückte den Fuß durch, bis der Motor aufheulte. Gerade begann der Laster loszurollen, als der Mann die Tür aufriss und sich über den Beifahrersitz lehnte. Soja machte sich so klein wie möglich. Er packte sie bei den Haaren und zog sie hoch. Sie schrie auf und zerkratzte ihm die Hände.
Aus irgendeinem unerklärlichen Grund ließ er los.
Soja plumpste zurück auf den Kabinenboden und duckte sich keuchend. Der Motor tuckerte. Der Laster fuhr nicht mehr, aber der Mann war weg. Die Tür stand offen. Vorsichtig richtete Soja sich auf und spähte über den Beifahrersitz hinweg. Sie konnte den Mann fluchen hören. Als sie noch ein Stückchen weiterrückte, sah sie ihn auf dem Boden liegen.
Verwirrt registrierte Soja, dass der Junge neben ihm stand. Er hatte ein Messer in der Hand. Die Klinge war blutverschmiert.
Der Mann hielt sich das Fußgelenk, das heftig blutete. Seine Finger waren rot. Schweigend starrte der Junge sie an. Da der Mann nicht aufstehen konnte, grabschte er nach den Beinen des Jungen, aber der sprang zur Seite und aus der Gefahrenzone. Der Mann versuchte aufzustehen, fiel aber sofort wieder hin und rollte sich auf den Rücken. Die Sehnen seines Knöchels waren durchtrennt, und der linke Fuß hing nutzlos herab. Sein Gesicht war wutverzerrt, und er stieß wüste Drohungen aus, die er jedoch allesamt nicht in die Tat umsetzen konnte, weil er bewegungsunfähig am Boden lag. Ein seltsames Bild - ebenso gefährlich wie erbärmlich.
Der Junge schenkte dem Mann nicht die geringste Beachtung, sondern wandte sich an Soja: »Komm aus dem Laster raus.«
Soja kletterte aus dem Führerhaus und hielt sich dabei in sicherer Entfernung von dem Mann. Der verband sich gerade mit seinem Hemd den Knöchel. Der Junge wischte seine Klinge ab, und im nächsten Moment war das Messer in den Falten seiner Kleider verschwunden.
»Danke«, sagte Soja und behielt dabei den Mann im Auge.
»Wenn Frajera mir befohlen hätte, dich umzubringen, hätte ich es gemacht.«
Soja wartete einen Moment ab, dann fragte sie ihn: »Wie heißt du?«
Der Junge zögerte, offenbar unschlüssig, ob er antworten sollte oder nicht. Schließlich murmelte er: »Malysch.«
»Malysch«, wiederholte sie.
Soja warf zuerst einen prüfenden Blick auf den Verletzten und dann auf den Lastwagen. Sie hatte ihn festgefahren. Der Mann schlug mit den Fäusten auf die Erde und schrie: »Warte nur, bis die anderen hören, was du gemacht hast. Die bringen dich um!«
Soja sah den Jungen besorgt an. »Stimmt das?«
Der Junge dachte nach. »Das muss dich nicht kümmern. Wir gehen zu Fuß zurück. Wenn du versuchst
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