Kolyma
die ihre Kraft nur am Umfang ihres Bizeps maßen, hatten Soja keine Angst eingeflößt, diese Frau aber wohl. Frajera hatte sie mit unterkühlter Präzision gemustert wie ein Handwerksmeister das Innenleben einer zweitklassigen Uhr. Eigentlich wäre das eine gute Gelegenheit für eine Frage gewesen: Was haben Sie mit mir vor? Aber Soja ?hatte keinen Ton herausgebracht und wie betäubt geschwiegen. Frajera war nur eine Minute in ihrer Zelle geblieben, dann war sie wieder gegangen, ohne ein Wort zu sagen.
Jetzt, wo sie gehen durfte, verließ Soja den Feldweg und betrat die Lichtung. Ihre Füße sanken in der feuchten Wiesenerde ein. Vielleicht würden sie sie umbringen, während sie unterwegs zum Wald war. Vielleicht zielten sie schon auf sie. Soja warf einen verstohlenen Blick zurück. Der Mann rauchte. Der Junge behielt sie genau im Auge. Er missdeutete ihren Seitenblick und rief: »Wenn du wegrennst, kriege ich dich.«
Seine Überheblichkeit gefiel ihr überhaupt nicht. Was machte den eigentlich so selbstsicher? Wenn es eines gab, was sie konnte, dann war es rennen.
Nachdem sie zwanzig Schritte in den Wald hineingemacht hatte, legte sie eine Hand auf einen Baumstamm, um endlich wieder etwas anderes zu fühlen als die immer gleichen kalten und feuchten Backsteine. Obwohl sie beobachtet wurde, legte sie schnell ihre Scheu ab, hockte sich hin und griff eine Handvoll Erde. Tröpfchen schmutzigen Wassers rannen über ihre Hand. Als Kind aus einer Kolchose hatte sie früher ihren Eltern beim Arbeiten geholfen. Manchmal auf den Feldern hatte ihr Vater sich gebückt, eine Handvoll Erde genommen und sie zwischen seinen Fingern zerrieben, die Klumpen zerbrochen und die Erde so zusammengepresst, wie sie es jetzt machte. Sie hatte ihn nie gefragt, warum. Was fand er damit heraus? Oder war es nur eine Angewohnheit? Sie bedauerte, dass sie es nie erfahren hatte. So vieles bedauerte sie, jede vergeudete Sekunde, in der sie nur geschmollt oder herumgealbert hatte, wenn er mit ihr reden wollte, oder wenn sie sich schlecht benommen und ihre Eltern wütend gemacht hatte. Jetzt waren sie weg und würden nie mehr mit ihr sprechen.
Soja machte die Faust auf und klopfte hastig die Erde ab. Sie wollte nicht mehr daran erinnert werden. Wenn sie schon keinen Sinn im Leben sah, im Tod erkannte sie durchaus einen Sinn. Der Tod würde das Ende all ihrer traurigen Erinnerungen sein, das Ende allen Bedauerns. Der Tod würde sich weniger leer anfühlen als das Leben, da war sie sicher. Sie stand auf. Dieser Wald ähnelte dem in Kimow bei ihrer Kolchose zu sehr. Dann noch lieber die Eintönigkeit der kalten, feuchten Backsteine - die erinnerten sie wenigstens an gar nichts. Sie wollte hier weg.
Soja wandte sich wieder dem Lastwagen zu. Im nächsten Moment schrak sie hoch. Der untersetzte Muskelprotz stand direkt hinter ihr. Sie hatte ihn gar nicht näher kommen hören. Er sah grinsend auf sie herab und entblößte dabei seinen zahnlosen Gaumen. Er warf die Zigarette beiseite, und Soja merkte sich, wo sie hinfiel und weiterglomm. Der Mann hatte schon seine Jacke ausgezogen, jetzt rollte er sich die Hemdsärmel hoch.
»Frajera hat befohlen, dass wir dir ein bisschen Bewegung verschaffen. Und du hattest ja noch keine.«
Er streckte den Arm aus und legte ihr die Hand auf die Schulter, dann fuhren seine Finger über ihr Gesicht, so als wollten sie eine Träne wegwischen. Seine Fingernägel waren abgekaut und rissig. Er senkte die Stimme. »Wir sind nicht so zahm wie du, nicht so höflich. Wenn wir etwas wollen, dann nehmen wir es uns.«
Soja bemühte sich verzweifelt, keine Angst zu zeigen. Mit jedem Schritt, den er auf sie zumachte, machte sie einen zurück.
»Uns etwas zu nehmen ist das, was wir am besten können. Was Mädchen am besten können, ist Unterwerfung. Du nennst es vielleicht Vergewaltigung. Ich nenne es ... Bewegung.«
Angst - darauf war der Mann aus. Auf Angst und Unterdrückung. Aber nichts davon würde sie ihm geben: »Wenn du mich anrührst, trete ich dich. Wenn du mich auf den Boden drückst, kratze ich dir die Augen aus. Und wenn du mir die Finger brichst, beiße ich dich ins Gesicht.«
Der Mann lachte laut auf. »Und wie willst du das anstellen, wenn ich dich zuerst bewusstlos schlage, Kleine?«
Jeden Schritt, den Soja machte, folgte er ihr, sein massiger Körper drängte sie immer mehr zurück, bis sie schließlich an einen Baum gedrückt wurde und nicht mehr weiterkonnte. Heimlich tastete sie den Baumstamm ab auf der
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