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Kolyma

Kolyma

Titel: Kolyma Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Rob Smith
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Maschinengewehrlafette war weg, von ihr waren nur ein paar vorstehende, verbogene Stahlteile übrig geblieben. Man konnte sich kaum vorstellen, dass die See, die jetzt ganz ruhig und glatt dalag, so wild gewesen sein sollte, wie sie es vor kaum zwölf Stunden gewesen war. Nur einen winzigen Augenblick lang sah Leo zu Timur hinüber und studierte das Gesicht seines Freundes, der dunkle Ränder unter den Augen hatte. Auch ihm hatte der Sturm zugesetzt. Ihre jeweiligen Erlebnisse würden sie sich später erzählen müssen.
    Leo ging vorbei und weiter bis zum Rand des Decks. Er legte die Hände auf die Reling und warf einen ersten Blick auf die Bucht von Magadan, das Tor zur entlegendsten Gegend seines Landes, einer Region, die Leo gleichzeitig sehr vertraut und vollkommen fremd war. Er war selbst noch nie hier gewesen, hatte aber Hunderte Männer und Frauen hergeschickt. Er hatte sie keinem bestimmten Gulag zugewiesen, dafür war er nicht verantwortlich gewesen. Aber mit Sicherheit hatten sich viele an Bord dieses oder eines ähnlichen Schiffes wiedergefunden und waren dann so wie er jetzt hintereinander hergeschlurft, der Vollstreckung ihres Urteils entgegen.
    Wenn man bedachte, wie berüchtigt dieser Landstrich war, hätte Leo eigentlich schon von der Landschaft einen offensichtlich bedrohlichen Anblick erwartet. Aber der Hafen, den man vor etwa zwanzig Jahren gebaut hatte, war klein und still und bestand vornehmlich aus Holzhütten. Hier und da mischte sich ein schmuckloser städtischer Betonbau darunter, dessen Außenwände mit Parolen und Propaganda bepinselt waren - unpassende Farbkleckse in einer ansonsten grauen, schwarzen und weißen Kulisse. Jenseits des Hafens lag in einiger Entfernung eine Ansammlung von Gulags, die sich zwischen die Hänge des schneebedeckten Gebirges schmiegten. Die Berge, die an der Küste noch flach waren, erhoben sich weiter landeinwärts immer höher zum Gebirge, bis dessen riesige Gipfel in den Wolken verschwanden. Ebenso ruhig wie bedrohlich lag das Bergmassiv da - eine Landschaft, die keine Schwäche duldete und alles Gebrechliche von ihren von arktischen Winden umtosten Hängen fegte.
    Leo stieg hinunter aufs Dock, wo einige kleine Fischerboote vertäut waren, Zeugnisse eines Lebens außerhalb der Gefängnisse. Die Einheimischen, die sich Tschuktschen nannten und sich schon lange von dieser Scholle ernährt hatten, bevor das Land durch die Gulags kolonialisiert worden war, trugen Körbe mit Walrosszähnen und den ersten Kabeljaufängen des Jahres. Für Leo hatten sie nur einen flüchtigen, unfreundlichen Seitenblick übrig, so als seien die Sträflinge dafür verantwortlich, dass man ihr Land in ein Internierungsreich verwandelt hatte. An Deck standen Wachposten und trieben die Neuankömmlinge voran. Über ihren Uniformen trugen sie in mehreren Schichten Filz und dicke Pelze, eine Mischung aus handgefertigter Tschuktschen-Kleidung und der einheitlich geschnittenen, massenangefertigten Standardkluft des Staates.
    Hinter den Wachpolizisten hatten sich Gefangene versammelt, die freigelassen werden sollten und auf ihre lange Heimfahrt warteten. Entweder hatten sie ihre Strafe verbüßt, oder sie waren begnadigt worden. Nun waren sie frei, aber nach dem Ausdruck auf ihren Gesichtern zu urteilen hatten sie das noch gar nicht richtig begriffen. Ihre Schultern hingen herab, und die Augen lagen tief in den Höhlen. Leo suchte nach einem Zeichen des Triumphes, einem gemeinen, wenn auch verständlichen Vergnügen daran, dass sie andere in die Lager ziehen sahen, die sie selbst gerade verließen. Stattdessen sah er fehlende Finger, aufgerissene Haut, Geschwüre und kaputte Muskeln. Vielleicht würden sich einige von ihnen in der Freiheit wieder erholen, aber alle würden nicht überleben. Das also war aus den Männern und Frauen geworden, die er hierherverfrachtet hatte.

    * * *

    An Deck sah Timur zu, wie die Gefangenen zu einer Lagerhalle geführt wurden. Leo war von den anderen nicht zu unterscheiden. Ihre Maskierung war also nicht aufgeflogen. Trotz des Sturms waren sie beide unverletzt angekommen. Die Fahrt mit dem Schiff war ein notwendiger Teil ihrer Tarnung gewesen. Es gab zwar Flüge nach Magadan, aber dann hätten sie das Strafsystem nicht so unbemerkt infiltrieren können. Sträflinge kamen nicht mit dem Flugzeug. Zum Glück würden bei ihrer Rückkehr solche Schleichmanöver unnötig sein. Auf dem Rollfeld von Magadan wartete eine Frachtmaschine. Wenn alles lief wie geplant,

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