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Kolyma

Kolyma

Titel: Kolyma Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Rob Smith
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Anhänger auf und ab ging und offenbar die Stimmungslage innerhalb der Bande abschätzte. Die meisten waren gegen ihn. In Augenblicken wie diesen konnte man sich auf ihre Macht nicht mehr verlassen. Besaß Frajera die Autorität, die Mehrheit zu ignorieren? Oder würde sie sich auf die Seite dieser Mehrheit schlagen müssen, um ihre Autorität zu wahren? Es machte Malyschs Situation nicht besser, dass sein Ankläger innerhalb der Bande angesehen war. Seinen klikucha »Lichoi« trug er wegen seiner berühmten Manneskraft. Das banale »Malysch« dagegen bedeutete einfach Bürschchen und bezog sich auf seine geringe kriminelle ebenso wie auf seine mangelnde sexuelle Erfahrung. Er war erst vor Kurzem zur Bande gestoßen. Während die anderen wory sich alle aus dem Arbeitslager kannten, war Malysch eher zufällig bei ihnen gelandet. Seit er fünf war, hatte er auf dem Leningrader Baltiysky-Bahnhof als Taschendieb gearbeitet. Schon bald hatte das Straßenkind sich den Ruf des geschicktesten aller Diebe erworben. Eine derjenigen, die er bestohlen hatte, war Frajera gewesen. Anders als die meisten anderen hatte sie den Verlust sofort bemerkt und war ihm nachgesetzt. Ihre Schnelligkeit und Entschlossenheit hatte den Jungen überrascht, er hatte all seine Fertigkeiten und Ortskenntnisse des Bahnhofsgebäudes aufbieten müssen, um ihr zu entkommen. Am Ende war er aus einem Fenster geklettert, das kaum groß genug für eine Katze war. Trotzdem hatte es Frajera noch geschafft, ihm einen seiner Schuhe vom Fuß zu reißen. Malysch hatte die Sache damit als erledigt betrachtet und wollte am nächsten Tag wieder seiner Tätigkeit nachgehen, allerdings an einem anderen Bahnhof. Doch Frajera hatte dort schon auf ihn gewartet, mit seinem Schuh in der Hand. Anstatt ihn zur Rede zu stellen, hatte sie ihm angeboten, seine Schar von Taschendieben zu verlassen und bei ihr anzufangen. Er war der einzige Taschendieb gewesen, der ihr je entwischt war.
    Trotz seiner Fertigkeiten als Dieb war seine Ernennung zum echten Mitglied der wory nicht auf ungeteilten Zuspruch gestoßen. Die anderen hielten ihn für einen läppischen Kleinkriminellen, der es nicht wert war, einer von ihnen zu sein. Er hatte noch nie jemanden umgebracht und war nicht im Gulag gewesen. Frajera aber hatte diese Bedenken beiseitegeschoben. Sie fand Gefallen an ihm, obwohl er ernst und in sich gekehrt war und kaum ein Wort über die Lippen brachte. Zögernd fanden sich die anderen damit ab, dass er jetzt einer von ihnen war. Und auch er fand sich zögernd damit ab, dass er jetzt einer von ihnen war. In Wahrheit aber war er Frajeras Ziehkind, und jeder wusste das. Als Gegenleistung für ihren Schutz liebte er Frajera wie ein wütender Kampfhund sein Herrchen. Er strich um ihre Beine und schnappte nach jedem, der ihr zu nahe kam. Trotzdem machte er sich nichts vor. Wenn Frajeras Autorität auf dem Spiel stand, dann zählte das, was sie verband, nicht mehr viel. Frajera neigte überhaupt nicht zu Sentimentalitäten. Und Malysch hatte nicht nur einen Kameraden verwundet, er hatte auch noch ihre Pläne in Gefahr gebracht. Anstatt unauffällig mit dem Laster fahren zu können, hatten sie beinahe acht Stunden lang zu Fuß in die Stadt zurücklaufen müssen. Man hätte sie anhalten und verhaften können. Dem Mädchen hatte er gedroht, ihr die Kehle durchzuschneiden, wenn sie um Hilfe schrie oder seine Hand losließ. Sie hatte gehorcht und auch nicht über Erschöpfung geklagt, sondern war die ganze Strecke mit ihm gelaufen, ohne auch nur einmal um eine Rast zu bitten. Selbst auf belebten Straßen, wo sie ihm hätte Schwierigkeiten machen können, hatte sie seine Hand nicht losgelassen.
    Frajera sprach. »Die Tatsachen sind unbestritten. Nach unseren Gesetzen wird jeder, der einen anderen Kameraden verletzt, mit dem Tod bestraft.«
    Das Wort Tod war hier nicht in seinem normalen Wortsinn gemeint. Man würde ihn nicht etwa erschießen oder hängen. Tod hieß Ausschluss aus der Bande. Man würde ihn gut sichtbar tätowieren - auf der Stirn oder auf dem Handrücken. Es würde die Darstellung einer offenen Vagina oder eines offenen Anus sein - das Zeichen für jeden wory-Bruder, gleich welcher Bande, dass der Träger der Tätowierung jede nur erdenkliche körperliche und sexuelle Marter verdiente und man dabei keine Furcht vor der Rache einer anderen Bande haben musste. Malysch verehrte Frajera. Diese Strafe aber würde er nicht hinnehmen. Er stellte ein Bein aus und ließ seine Hand

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